VON CLEMENS POKORNY | 16.09.2016 10:01

Männliche Herrschaft über Frauen?

Girls-Day und Frauenquote zum Trotz: Noch immer wird unsere Gesellschaft auf fast allen Ebenen von Männern dominiert. An dieser Herrschaft ist kein einzelner Mann schuld und auch keine verschworenen männlichen Seilschaften. Jahrtausendelang waren Männer qua ihrer körperlichen Ausstattung in Positionen, die ihnen die Macht über Frauen sicherten. Das muss heute nicht so bleiben – auch deshalb nicht, weil die Unterscheidung in „Mann“ oder „Frau“ problematisch ist.

Herabwürdigende Diskriminierung, geringere berufliche Chancen, sexuelle Belästigung bis hin zur Vergewaltigung: Frauen haben auch bei uns, also in einem Land mit formaler Gleichberechtigung, viele Nachteile – verglichen mit Männern. Auch unter einander Nahestehenden dominiert häufig das „starke“ Geschlecht über das „schwache“. Die Herrschaft der Männer über die Frauen besteht überall, wo und so lange, wie ein solches Kraftverhältnis sich überhaupt nachweisen lässt. Woran das liegt und wie sich daran etwas ändern lässt, ist aber umstritten.

Für die Erforschung der Verhältnisse in einer Gesellschaft ist die Soziologie zuständig. Seit ihrem Gründervater Émile Durkheim schreibt sie sich selbst meist das Prinzip „Soziales nur aus Sozialem erklären“ vor. Die Existenz der männlichen Herrschaft und vor allem deren Ursprung konnte sie so aber bis heute nicht überzeugend erläutern. Sogar der materialistische Denker Pierre Bourdieu begründet seinen Begriff der männlichen Herrschaft ausnahmsweise konstruktivistisch, d.h. er nahm an, dass die Ungleichheit der Geschlechter nur im Bewusstsein der Beteiligten existiere. Dafür wurde er selbst von wohlwollenden Kolleginnen und Kollegen mit überzeugenden Argumenten und Gegenbeispielen kritisiert.

Vielleicht lässt sich die männliche Herrschaft mit einem Rückgriff auf Außer-Soziales, nämlich die Biologie, ebenso simpel wie einleuchtend besser herleiten. Seit bis zu 200.000 Jahren lebt der Mensch auf der Erde, und bis vor ca. 50 Jahren konnte er spätestens seit seiner Sesshaftigkeit in den meisten Zonen unseres Planeten seinen Lebensunterhalt nur mit schwerer körperlicher Arbeit (Ackerbau und Jagd, in arbeitsteiligen Gesellschaften auch Handwerk und seit dem 19. Jahrhundert zudem Industrie) erwerben und verteidigen. Alles Tätigkeiten, die der Mensch in über 99% seiner Zeit auf der Erde ausübte. Angehörige der Gender Studies mögen nun alle Unterschiede zwischen den Geschlechtern als soziale Konstruktionen zurückweisen – einen Unterschied können auch sie nicht wegdiskutieren: Der durchschnittliche Träger von Penis und Hoden hat deutlich mehr Muskelmasse und Testosteron zu deren Versorgung als die durchschnittliche Eierstockbesitzerin. Dass Männer die schwere und gefährliche Arbeit außer Haus erledigten und den Frauen das Haus zugewiesen war, lag also nahe und war für alle Beteiligten sinnvoll. Für den Erwerb des Lebensunterhalts waren somit – soweit wir das sicher sagen können – in der Regel primär die Männer zuständig, und sie waren es auch, die ihren Besitz und ihre Familien mit ihrer Körperkraft vor Bedrohungen schützten. Wer aber am Drücker ist, hat auch die Macht (oder: Wer zahlt, schafft an). Zudem konnte und kann der Mann in seinem persönlichen Verhältnis zur Frau, z.B. in Konflikten, seine körperliche Überlegenheit ausspielen. Gleichzeitig erforderten Armut und die hohe Kindersterblichkeit, dass Frauen sich weitgehend ausschließlich mit dem Gebären und Großziehen des Nachwuchses beschäftigen mussten.

Ich Mann, du Frau - traditionelle Geschlechterrollen von der Steinzeit bis heute

Dieses asymmetrische Verhältnis zwischen den Geschlechtern hat sich natürlich über die Jahrtausende hinweg tief in das kollektive Bewusstsein (und ins Unbewusste) eingegraben, misogynen Vorurteilen Vorschub geleistet und die Verteilung der sozialen Positionen zwischen den Geschlechtern für naturgegeben erscheinen lassen. Und es bestimmt das Denken bis heute – sowohl das der Männer als auch das der Frauen. Schon allein das Geschlecht des Wortes „Mann“, maskulin: „der“ Mann, zeigt, dass Männer als die Menschen schlechthin angesehen wurden. Man denke auch an die biblische Geschichte von der Erschaffung Evas aus Adams Rippe: die Frau als (natürlich unvollkommenes) Derivat des Mannes. Doch weil beide Geschlechter diese Ideologie verinnerlicht haben, kommt der Soziologe Bourdieu zu dem Schluss, dass auch Männer von der männlichen Herrschaft beherrscht werden, weil sie die soziale Welt nach deren Muster sehen und gestalten (müssen): Sie werden von klein auf zu „Männern“ erzogen, lernen also, was es heißt, die soziale Position (veraltet: Rolle) eines Mannes einzunehmen – und auch, welche Verhaltens- und Handlungsweisen damit unvereinbar sind. Über diese These könnten diejenigen Feministinnen nachdenken, die Männer wegen diskriminierenden Verhaltens persönlich angreifen statt mit ihnen zu diskutieren.

In den hoch entwickelten und reichen Staaten der Gegenwart dominieren seit einigen Jahrzehnten Berufe, die ebenso wenig körperlich anstrengend sind wie der Schutz unseres Lebens und unserer Rechte durch die Exekutive. Ist es ein Zufall, dass diese Entwicklung mit der Emanzipation der Frauen zusammenfällt? Und warum sollte da das „schwache“ Geschlecht mit den besseren und höheren Bildungsabschlüssen mehrheitlich noch immer ein Hausfrauendasein führen? Dass es aktuell nach der Geburt eines Kindes oft doch wieder dauerhaft zu Hause bleibt, beweist aber nicht die Existenz wissentlich ausgeübter männlicher Unterdrückung, sondern das Fortwirken überkommener Denkmuster – bei beiden Geschlechtern.

Wenn es denn zwei Geschlechter gibt. Die Zwei-Geschlechter-Dichotomie, wie sie z.B. in amtlichen Dokumenten festgeschrieben wird, grenzt Intersexuelle aus. Und Sexualwissenschaftler wie der Merseburger Professor Heinz-Jürgen Voss versuchen zu zeigen, dass es „unzählige“ Geschlechter gebe, bedingt durch viele Faktoren: Chromosomen, Hormone, Geschlechtsorgane, Aussehen, Sozialisation und Selbstbild. Die Emanzipation von Frauen und Intersexuellen trägt also ihren Teil zum Ende der männlichen Herrschaft bei – hoffentlich auf dem Weg zu einer Gesellschaft ohne ungerechtfertigte und unnötige Herrschaft von Menschen über Menschen.