VON SUSANNE BREM | 22.06.2016 16:17

Geraubte Nacht: Über die Bedeutung von Lichtverschmutzung

Eine internationale Forschergruppe hat erstmals seit 2001 die weltweite Lichtverschmutzung neu gemessen und ausgewertet. Der „New World Atlas of Artificial Sky Brightness“ indexiert anschaulich, wo auf der Erde das nächtliche Firmament am stärksten erhellt wird und wo Menschen dagegen noch den Sternenhimmel bestaunen können. Das Ergebnis: an einigen Punkten auf der Erde schon gar nicht mehr. Die Drahtziehenden des Forschungsprojekts warnen indes vor dem Lichtsmog: Er habe bereits massiven Einfluss auf Mensch, Tier und Natur und beeinträchtigt ganze Ökosysteme. Auch ohne den prognostizierten jährlichen Anstieg um sechs Prozent könnte die Lichtverschmutzung weitere schwerwiegende Folgen nach sich ziehen.

Der neue Lichtatlas legt eine erschreckende Bilanz vor: Der Nachthimmel ist durch künstliche Beleuchtung auf der ganzen Welt erhellt wie nie zuvor. Laut der Atlasstudie kann knapp über ein Drittel der Menschheit an ihrem Heimatort die Milchstraße mit bloßem Auge längst nicht mehr erkennen; von den Deutschen sind rund 42 Prozent betroffen. So schön die erarbeitete Karte für Europa leuchtet, so desaströs und mahnend ist sie auch: 99 Prozent der gesamten Bevölkerung sei der Lichtverschmutzung in unterschiedlichem Ausmaß ausgesetzt. Besonders stark ist Lichtsmog in Westeuropa und der westlichen Hälfte der USA, hier sind klare dunkle Nächte beinahe nicht mehr zu erleben. Besonders schlecht kommt Italien weg, auch die Niederlande und Belgien zeichnen bis nach Köln ein Warndreieck der Lichtverschmutzung, das auf der Karte in alarmierendem Rot leuchtet. Hier sei nachts überhaupt kein Sternenhimmel mehr erkennbar. Rühmen dürfen sich dagegen Kanada und Australien für ihre weite luminöse Unberührtheit, wobei beide Länder auch in großen Teilen ihrer Fläche nahezu unbesiedelt sind.

Mit weniger mehr erreichen – zur Notwendigkeit von Suffizienz

„Das größte Problem ist Beleuchtung dort, wo sie nicht gebraucht wird“.

Christopher Kyba, Deutsches GeoForschungszentrum, benennt unnütze Starkbeleuchtung als das größte Sorgenkind. Eine 30.000 Menschen starke Stadt hellt den Himmel so etwa im Umkreis von 25 Kilometern auf. Falsch ausgerichtete Parkplatz- und Straßenbeleuchtung, Industrieanlagen, angestrahlte Sehenswürdigkeiten und Kirchen, blinkende Leuchtreklame, Werbefilme auf Gebäudefassaden, Flutlichter in großen Stadien und auf Nachtbaustellen, Skybeamer vor Discos – Beispiele gibt es zuhauf. Die Fachgruppe „Dark Sky“, Initiative gegen Lichtverschmutzung, zweifelt sogar den umfassenden Nutzen der durchgängigen Straßenbeleuchtung an. Sie diene zwar der Sicherheit im Verkehr und von einzelnen Personen nachts; Untersuchungen in England und den USA etwa dokumentieren aber, dass in unbeleuchteten Straßen statistisch weniger gewaltsame Übergriffe stattfinden. Und während die vorgegebene Beleuchtungsstärke von Straßenlaternen bei mindestens 7,5 Lux liegen soll (praktisch aber meist 10 Lux oder höher ist), fühlen sich schon viele Menschen von der Beleuchtungsstärke des hoch stehenden Winter-Vollmondes beim Schlaf gestört, der aber mit nicht einmal 0,3 Lux scheint.

Bedenkliche Auswirkungen auf den Mensch und viele Ökosysteme

Der Tag-Nacht-Rhythmus ist das Augenscheinlichste, worauf die Überbeleuchtung Einfluss hat. Durch mangelnde Dunkelheit und zu viele blaue Anteile in künstlichem Licht wird die Ausschüttung von Melatonin verhindert; ohne dieses Schlafhormon können tagaktive Organismen (wie der Mensch) nicht einschlafen, geschweige denn sich angemessen regenerieren (das ist z. B. auch durch Displaylicht von Handys und Laptops der Fall). Laut der Lichtatlasstudie läuft derzeit die flächendeckende Umstellung der Beleuchtung auf LEDs. Hier bestehe die Gefahr einer Verdoppelung oder gar Verdreifachung der nächtlichen Himmelsaufhellung, wenn bei der Beleuchtungsstärke das LED-Spektrum nicht entsprechend beachtet wird. Im Hinblick auf die geschätzte sechsprozentige Steigerung der Lichtverschmutzung pro Jahr hieße das: schon die nächste Generation in ganz Europa kann die Milchstraße mit einem Blick gen Himmel definitiv nicht mehr sehen. Auch Phänomene wie das Meeresleuchten würden unsichtbar werden, da sie gegen Neonlichter nicht ankommen.

Neben diesem schon halb vollzogenen Verlust von Kulturgut hat die Lichtverschmutzung auch für Flora und Fauna tragische Folgen: Nachtaktive Tiere etwa bekommen Schwierigkeiten bei der Nahrungssuche, bei der Orientierung (z.B. Eulen), manche auch bei Paarungsverhalten und Fortpflanzung. Für Pflanzen ist die klare Tag-Nacht-Struktur für die Photosynthese unverzichtbar. Heimische Vögel verenden im Falschflug wegen angeleuchteten Bauwerken; Zugvögel umkreisen Bohrinseln auf dem Meer bis zur Erschöpfung, weil sie sich durch die Lichtirritation nicht mehr am Sternenhimmel orientieren können. Sechs Millionen Zugvögel sterben so jährlich laut Dark Sky-Initiative. Frisch geschlüpfte Schildkröten rennen für gewöhnlich direkt Richtung Meer – dem hellsten wahrgenommenen Punkt. Den sehen sie mittlerweile in grell belichteten Hotels und Stränden; ihr tödliches Verhängnis. Lachse verharren (aus unbekannten Gründen) beim Laichwandern vor hell ausgeleuchteten Brücken und erreichen nicht ihr Ziel. Der Einfluss der Lichtverschmutzung zeigt sich bereits an vielen Stellen.

Stärkste Schutzmaßnahme: Licht reduzieren

Das Forschungsteam des Lichtatlas beschäftigt sich weiter mit der Lichtverschmutzung und deren Folgen. Verursacher suchen bereits in Ansätzen nach Lösungen und Ausweichmöglichkeiten. Bei der jährlichen „Earth Hour“ wird das Licht in und an öffentlichen Gebäuden weltweit für eine Stunde abgeschaltet. Einige Menschen sehen dies lediglich als wertlosen symbolischen Akt. Praktische Alternativen lägen z. B. in Bewegungsmeldern für Laternen in Seitenstraßen und vor Häusern oder in Straßenschildern, die wenig genutzte Ampeln in der tiefen Nacht ablösen. Auch Energiesparlampen und Ökostrom stehen auf der Forderungsliste, damit letztendlich eine Reduktion des Lichtvolumens erreicht werden kann. Und die nächtliche Neonreklame der Einrichtungskette? Die ist vermutlich auch verzichtbar.