Während der Fußball-WM 2006 gab Deutschland ein ungewohntes Bild ab. Die deutsche Flagge prangte einem an nahezu allen Orten entgegen: In den Nachbargärten und –balkonen, an Autofenstern und -spiegeln, vielleicht sogar an der eigenen Wohnzimmerwand. Der Umgang mit der deutschen Flagge war so ungehemmt wie seit Ewigkeiten nicht. Für viele war das Sommermärchen deshalb ein Segen. Endlich konnte auch Deutschland unverkrampft und ohne schlechtes Gewissen die eigene Fahne schwingen. Etwas, das für alle Nationen der Welt scheinbar uneingeschränkt galt, galt nun auch für Deutschland.
Bei der EM 2016 geben Deutschlands Straßen jedoch ein völlig anderes Bild ab. Man muss suchen, bis man die deutsche Fahne entdeckt. Geht man zur Arbeit, fühlt es sich fast immer wie Alltag an, nicht zu vergleichen mit dem Sommer 2016, als die allgemeine Euphorie zu jeder Tageszeit beinahe körperlich zu spüren war und eine aufkommende Alltagsträgheit stets im Keim erstickte.
Was wahrscheinlich die meisten subjektiv wahrnehmen, wird auch von der Wirtschaft bestätigt. Andreas Fleck, Chef eines der größten Fahnenhersteller Europas, spricht von der Hälfte an Umsatz, im Vergleich zu einer Weltmeisterschaft. Die Einnahmen zur WM 2006 seien ohnehin nicht zu toppen. Allerdings sei der Umsatz auch im Gegensatz zur letzten Europameisterschaft um ganze 15 Prozent zurückgegangen.
Was sind aber die Gründe für diesen zurückhaltenden Umgang mit der deutschen Flagge?
Einige sehen sie in der aktuellen politischen Situation. Das Erstarken rechtspopulistischer Gruppierungen im Rahmen der Flüchtlingskrise und deren Verwendung der deutschen Flagge lässt bei vielen zumindest ein mulmiges Gefühl zurück, dieses Symbol nun zum Feiern einer Fußballmannschaft zu verwenden. Auch die erstarkte rechtsextremistische Gewalt hält viele davon ab, die Fahne zu hissen. Markus Feldenkirchen beschreibt diesen inneren Vorgang exemplarisch: "Meine Faustformel in Sachen Nationalsymbolik geht etwa so: Je mehr Flüchtlingsheime brennen, je mehr Ausländer gejagt und geschlagen werden, desto geringer ist meine Motivation, mir schwarz-rot-goldene Schminke auf die Wangen zu pinseln, meine Außenspiegel zu schmücken oder am heimischen Sessel den Höcke zu machen."
Einige Linke sehen das Schwenken der deutschen Flagge unter den derzeitigen gesellschaftspolitischen Vorzeichen als Solidarisierung mit Pegida und Co. Sie fordern deshalb den absoluten Flaggenverzicht, um sich nicht von diesen Gruppen unfreiwillig instrumentalisieren zu lassen: Flagge zeigen, durch nicht Flagge zeigen, ist ihr Wahlspruch.
Prominente Unterstützung erhielt diese Sichtweise durch mehrere Facebook Posts der Grünen Jugend. Der Landesverband in Rheinland Pfalz forderte: „Fußballfans Fahnen runter“. Im Verlauf des Posts wird das berühmte Diktum von Johannes Rau „Ein Patriot ist jemand, der sein eigenes Vaterland liebt. Ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet“ kurzerhand ad acta gelegt. „Patriotismus = Nationalismus“ heißt es stattdessen und weiter: „Wer sich als patriotisch definiert, grenzt andere aus. Die Wirkung von Patriotismus hat immerzu Konsequenzen und wird besonders dort deutlich, wo er sich als aggressive Form darstellt und das Andere als Feind stigmatisiert. Zur Fußballeuropameisterschaft fordern wir alle Fans dazu auf, nationalistischem Gedankengut keinen Raum zu lassen! Fußballfans Fahnen runter!“.
Die Posts der Grünen Jugend haben einen Shitstorm ausgelöst. Politiker aller Parteien üben Kritik. Die Fahne sei ein "Symbol für weltoffenes, sympathisches Deutschland", twittert Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU). Selbst Zaklin Nastic, Landessprecherin der Linken, hält die Forderung der Grünen-Jugend für überzogen. „Als Migrantin weiß ich, dass Nationalfahnen manchmal auch nur die eigene Verbundenheit mit der Heimat ausdrücken sollen.“
Teilweise haben die Grünen dennoch Recht: Eine Gruppe kann sich nur bilden, wenn sie in bestimmten Punkten von anderen Gruppen abgegrenzt wird. Wird die Gruppe, der man sich zugehörig fühlt, in bestimmten Punkten positiv aufgewertet, besteht durchaus die Gefahr, dass dies mit einer Abwertung anderer Gruppen einhergeht. Die Grenze zwischen Nationalismus und Patriotismus ist deshalb nicht deutlich markierbar, sondern fließend. Trotzdem wäre es fatal, gar keine Abstufungen zu machen und jede Form des Patriotismus zu verurteilen.
Denn: Mit der radikalen Definition von Patriotismus durch die Grüne Jugend wird die Deutung des Begriffs durch rechte und rechtspopulistische Gruppen unterstützt. Wenn Pegida und die AfD von Patriotismus sprechen, dann geht es eigentlich um eine Form des Nationalismus: Heimat ist für diese Gruppierungen tatsächlich nur Heimat, wenn möglichst wenige Menschen hier leben, die nicht aus einem bestimmten Kulturkreis stammen. Es handelt sich somit um eine Pervertierung des Patriotismus-Begriffs. Was deutsch ist, wer deutsch ist und wer zum „Volk“ dazugehört, wird extrem eng gefasst. Wenn Pegida die Flaggen hisst und „Wir sind das Volk“ skandiert, dann geht es tatsächlich um Ausgrenzung. Die Flagge wird uminterpretiert in ein Symbol, das sich zur Herabwertung anderer Kulturkreise eignet. Warum sollte man allerdings diese Deutung der deutschen Flagge teilen? „Patriotismus ist Ausdruck unserer gemeinsamen Identität, unsere Fahne sollten wir gerade nicht den Nationalisten überlassen“, fordert etwa FDP-Chefin Katja Suding. Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung findet ebenfalls die richtigen Worte: „[D]ie sogenannten Rechtspopulisten in Europa zeichnen sich dadurch aus, dass sie das Wort Patriotismus pervertieren und das Wort Heimat zu einer nationalistischen Vokabel machen wollen. Wer bei den großen Fußballspielen im Nationaltrikot zum Public Viewing geht, wer sich ein schwarz-rot-goldenes Kondom über den Auto-Außenspiegel zieht - der ist ein Patriot, der den Patriotismus auf seine Weise feiert; er ist deswegen kein Nationalist, auch wenn ihn die Nationalisten gern für sich vereinnahmen würden. Und Heimat, dies von Nationalisten gekaperte Wort, ist kein giftiges, sondern ein heilsames Wort.“