Vorurteile sind wichtig. Das ist, vor allem unter den aktuellen gesellschaftlichen Umständen, eine gewagte These. Allerdings ist sie schwer zu widerlegen. Zumindest wenn man von einem weiten Vorurteilsbegriff ausgeht: Wenn ein Vorurteil ein Bild ist, dass man sich von einer Gruppe macht, ohne alle einzelnen Merkmale der verschiedenen Glieder dieser Gruppe miteinfließen zu lassen, dann sind wahrscheinlich alle unsere Kategorisierungen Vorurteile. Aber ohne Kategorisierungen, wäre der Mensch weder überlebens- noch handlungsfähig. Der Philosoph Max Horkheimer formulierte dazu folgende Sätze: „Im Dschungel der Zivilisation reichen angeborene Instinkte noch weniger aus als im Urwald. Ohne die Maschinerie der Vorurteile könnte einer nicht über die Straße gehen, geschweige denn einen Kunden bedienen“. Ohne Vorurteile könnten wir nicht einmal miteinander kommunizieren, da eine Begriffsbildung auch gleichzeitig immer eine Vorurteilsbildung bedeutet. Denn Begriffsbildung ist nichts weiteres, als die Zusammenführung von ähnlichen, aber trotzdem in vielem unterschiedlichen Elementen, die in der Umwelt wahrgenommen werden, unter ein übergeordnetes Konzept. Die Vielfalt der wahrgenommenen Wirklichkeit wird auf diese Weise zu bündeln versucht. "Vorurteile sind Übergeneralisierungen unseres Gehirns", sagt Beispiel Martin Korte, Hirnforscher an der TU Braunschweig. Das Hirn spare auf diese Weise Energie für andere Denkvorgänge. In dem Buch „Understanding Prejudice and Discrimination“ ist deshalb eine der wichtigsten Erkenntnisse: Niemand, der über Intelligenz und Sprache verfügt, ist dagegen immun, Vorurteile zu hegen. Konzepte geben uns Orientierung und machen uns handlungsfähig. Es ist daher schon funktional unvermeidlich, Kategorisierungen vorzunehmen. Vor allem früher war die durch Vorurteile gesteuerte Handlung überlebensnotwendig. Man musste erkennen, ob ein Mensch zur eigenen oder zu einer anderen Gruppe gehörte, da von Fremden zumeist Gefahr ausging. Diese Verhaltensweisen hat der Mensch nicht abgelegt. Zeigt man ihm Bilder von Mitgliedern anderer Ethnien wird im Gehirn besonders jenes System stark aktiviert, das mit Furcht und Flucht zusammenhängt: die Amygdala. Beim Anblick von Menschen der eigenen ethnischen Gruppe dämpft hingegen der präfrontale Cortex die Reaktion der Amygdala. Die geschieht so schnell, dass wir es nicht wahrnehmen. Auf diese unbewusste Weise laufen viele Formen der Informationsverarbeitung ab. Sieht man zum Beispiel eine dunkle Gestalt nachts auf der Straße, rechnen Nervenzellen unmittelbar die potenzielle Gefahr durch und aktivieren die zuständigen Areale. Auch wenn der oder diejenige in Wirklichkeit gar nicht gefährlich ist, reagieren wir auf eine Weise, die uns vor einer möglichen Gefahr schützen soll.
Man erkennt relativ schnell, wann es Probleme bei der Kategorienbildung des Menschen geben kann. Nämlich dann, wenn eine Kategorie anhand nur weniger oder gar keiner Realitätserfahrungen und ohne Reflexion gebildet wird. Außerdem ist es problematisch, wenn die Kategorie wertende Urteile über gesamte Gruppen fällt: Z.B.: „Alle Soldaten sind Mörder“, „Alle Blondinen sind dumm“, „Alle Banker sind gierig und moralisch korrupt“. Insbesondere wird es schwierig, wenn die gewonnene Einstellung unveränderlich ist, also nicht durch Gegenmeinungen oder neue, gegensätzliche Erfahrungen ins Wanken geraten kann. Bildet sich ein Mensch Kategorien auf diese Weise, dann kann man ihn tatsächlich auch in einem engeren Sinn vorurteilsbehaftet nennen.
Negative Einstellungen gegenüber ganzen Gruppen von unterschiedlichen Menschen sind gefährlich, denn sie bestimmen unser Handeln gegenüber diesen Menschen. Wenn alle arbeitslose Personen faule Schmarotzer sind, warum soll ich dann als Politiker eine soziale Absicherung für Arbeitslose befürworten? Oder angenommen, man denkt, alle übergewichtigen Personen seien bloß bewegungsfaul sind und lustlos, ihre Essgewohnheiten zu ändern? Warum sollen dann Krankheiten, die aufgrund des Gewichts entstehen, von der Krankenkasse bezahlt werden? Hier wird auch die wichtige Rolle der Medien und Politiker deutlich. Wenn das Gehirn die Informationen aufsaugt, die ihm in der Umwelt begegnet, dann ist eine ausgewogene Berichterstattung evident. Wenn nach einem Anschlag Medien und Politiker ständig von Selbstmordattentätern und dem Islam sprechen, dann speichern wir diese Assoziation und rufen sie auch in anderen Situationen wieder ab. Und bei der Berichterstattung über Terroranschläge könnte tatsächlich der Eindruck entstehen, der islamische Fanatismus hätte den Terrorismus für sich gepachtet, was nach dem Global Terror Index nachweislich falsch ist.
Auf diese Weise führen Vorurteile zur Abwertung und Diskriminierung gesamter Menschengruppen. Unfassbarer Weise haben hierzulande Menschen mit türkischen Namen immer noch eine 24 Prozent geringere Chance zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden. Es gebe „unbewusste Assoziationen, Vorurteile und darauf aufbauend Vorbehalte gegen Lehrlinge mit ausländischen Wurzeln“, so die Verantwortlichen der betreffenden Studie. Diese Art der Diskriminierung gilt nicht nur für den ethnischen und religiösen Bereich. So weist eine Untersuchung der Einstellung von Lehrpersonal darauf hin, dass Namen von Schülerinnen und Schülern wie Chantal, Mandy oder Kevin eher mit Leistungsschwäche und Verhaltensauffälligkeit in Verbindung gebracht werden. Dies geschieht unabhängig von den tatsächlichen Schulleistungen der entsprechenden Kinder. Die Gefahr, dass diese schlechter bewertet werden, besteht durchaus, wie eine weitere Studie des Harvard Psychologen Robert Rosenthal und der Grundschuldirektorin Leonore Jacobson zeigt. Diese erzählten Lehrern, dass einige Schüler kurz vor einem intellektuellen Entwicklungsschub stünden, was anhand wissenschaftlicher Tests ersichtlich sei. Die Kinder waren allerdings völlig willkürlich ausgewählt. Als die Forscher acht Monate später die Leistungen verglichen, konnten die besagten Kinder in einem IQ-Test tatsächlich mit weit besseren Leistungen als zu Beginn der Studie glänzen. Die veränderten Erwartungen der Lehrer gegenüber den Schülern hatten auch das Verhalten dieser gegenüber den Schülern geändert. Die willkürlich getroffene Aussage der Wissenschaftler war Realität geworden.
Auch unser eigenes Selbstbild kann durch Vorurteile der Gesellschaft ins Wanken geraten. Bei einem Leistungstest der Stanford University schnitten Afroamerikaner schlechter ab, wenn sie zuvor mit ihrem Namen und Alter auch ihre Hautfarbe angeben mussten. Anscheinend hatten sie das in den USA leider immer noch häufige Bild des „ungebildeten Schwarzen“ auch selbst übernommen. Das lässt vermuten: Sobald sich Menschen zu einer Gruppe zugehörig fühlen, handeln sie häufig den Erwartungen der Gesellschaft an diese Gruppe entsprechend.
Die Einteilung von Menschen in Gruppen geschieht allerdings automatisch. Der Mensch will nicht nur die Dinge seiner Umwelt, sondern auch andere Menschen und sich selbst in Ordnungskategorien zuordnen können. Um die eigene Gruppe zu etablieren, muss diese von anderen Gruppen abgegrenzt werden können. Denn wenn alle Gruppen gleich wären, gäbe es keine Gruppen mehr. Auf diese Weise entstehen oft Stereotypen, die die eigene Gruppe aufwerten, während andere abgewertet werden. Je größer der kulturelle und optische Unterschied zwischen den Gruppen ist, desto stärker ist dieser Effekt häufig. Eine der bekanntesten Gruppenbildungen ist die der Nationenbildung. Der Grat zwischen Patriotismus (Gefühle von Zugehörigkeit und Stolz bezogen auf die eigene Nation) und Nationalismus (Überhöhung der eigenen Nation und Herabsetzung anderer Nationen) ist dabei häufig fließend.