VON MAXIMILIAN REICHLIN | 12.05.2016 13:49

„Ich bin tolerant, aber...“ - Der Artikel, der nicht weiß, wann Toleranz zu Dummheit wird

Mein Mitbewohner hat den Abwasch nicht erledigt. Und das stört mich. Vor allem, weil jetzt keine sauberen Töpfe mehr da sind, in denen ich mir etwas zum Abendessen kochen könnte. Es stört mich noch mehr, weil ich tierischen Hunger und den ganzen Tag in der Bibliothek verbracht habe, um meine Semesterarbeiten zu erledigen. Jetzt könnte man sich fragen, was diese ganze Situation mit Toleranz zu tun hat.

Die einfache Erklärung: Mein Mitbewohner ist eine faule Socke, und das weiß ich. Ich kenne ihn ja schon eine ganze Weile. Und wisst ihr, eine faule Grundeinstellung ist nicht das Schlechteste, immerhin beugt ihr damit Burnout und Magengeschwüren vor, habt immer Zeit für ein paar Bier und lebt, alles in allem, lässiger. Ich selbst bin kein fauler Mensch, aber ich verstehe, warum andere diesen Lebensstil für sich entdeckt haben. Daher ist diese ganze Angelegenheit eben auch eine Frage der Toleranz: Wer von uns beiden lebt richtig, wer falsch?

Als ich meinen Mitbewohner zur Rede stelle, sieht er verschlafen und müde aus, ich kann ihm den Kater förmlich vom Gesicht ablesen. Ganz klar: Er war gestern feiern und hat sich heute einen Gemütlichen gemacht. „Hab' dich nicht so.“ sagt er. „Lässt sich doch auch alles auf morgen verschieben.“ Und plötzlich ertappe ich mich bei einem Aber. Grundsätzlich halte ich mich für einen toleranten Menschen, wenn da nicht immer dieses verflixte Aber wäre. Denn einerseits verstehe ich gut, dass mein Mitbewohner sich nach einer durchzechten Nacht einen faulen Katertag gönnen will, mit Pizza im Bett und einer Staffel „Breaking Bad“. Hätte ich genau so gemacht. Und wenn „Lässt sich doch auch auf morgen verschieben“ eben sein Lebensmotto ist, wer bin dann ich, dagegen aufzubegehren, auch wenn mein Lebensmotto lautet „Was du heute kannst besorgen, und so weiter.“?

Noch habe ich Zeit...

Doch dann kommt es eben doch, dieses Aber, in Sätzen wie: „Ich verstehe, dass du dich heute ausruhen wolltest, aber es ist kein Geschirr mehr da, und ich habe Hunger!“. Andere Gespräche mit meinem Mitbewohner könnten dann so aussehen: „Es ist völlig in Ordnung, dass du deine Metal-Musik nur genießen kannst, wenn du die Lautstärke voll aufdrehst, aber...“, oder: „Dass du lieber zocken willst, anstatt mit den Jungs und mir auf Tour zu gehen, ist dein gutes Recht, aber...“, oder einfach ganz grundsätzlich: „Ich verstehe deine Meinung, aber...“

In dieser Hinsicht ist das mit der Toleranz immer so eine Sache. Einerseits will man alternative Meinungen nicht grundsätzlich verdammen, denn immerhin leben wir (Himmelherrgott!) in einer verdammt heterogenen Gesellschaft. Da ist einer weiß, einer schwarz, einer asiatischer Herkunft, einer Muslim, einer Christ, einer fleißig und einer faul, einer ehrgeizig und einer genügsam. Einer geht am Montag zur PEGIDA-Demo, einer beschwert sich am Dienstag in der FAZ über die Nazis. Einer schuftet den ganzen Tag in der Uni-Bibliothek, der andere macht in der Zwischenzeit nicht den Abwasch. Und das ist auch alles vollkommen in Ordnung, denn wer kann letzten Endes schon sagen, wer Recht hat und wer nicht? Daher meine tolerante Grundeinstellung: Leben und leben lassen. Soweit zur Theorie.

Die Praxis sieht dann leider ganz anders aus. Denn von der Akzeptanz eines anderen Lebensstils bis zum stupiden Abnicken jeder Frechheit ist es eben nur ein kleiner Schritt. Selbst, wenn es nur um Kleinigkeiten wie das Geschirr geht. Immerhin hatte ich ihn bereits gestern darum gebeten und immerhin wusste er, dass er nicht in der Lage sein würde, den Abwasch zu machen, wenn er sich das siebte Bier auch noch reintut. Hätte er es dann nicht einfach weglassen und seinen Verpflichtungen nachkommen können? Und muss ich seinem Kater gegenüber tolerant sein, wenn er es nicht auf die Kette bekommt, eine einfache Bitte zu erfüllen?

Und schließlich ertappe ich mich selbst nicht mehr beim Aber, sondern ich ertappe mich beim intoleranten Rumschreien. Ich nenne meinen Mitbewohner eine faule Couch-Kartoffel, wünsche ihm die Krätze am Hintern, lasse noch einen Spruch über seine Mutter fallen (verzeiht mir, ich bin das Produkt meiner Zeit), schlage die Tür hinter mir zu und gehe in mein Zimmer. Dort angekommen denke ich über Toleranz nach. Die unbefriedigende Lösung meiner Überlegungen: Dass es dafür wohl leider keine Lösung gibt. Natürlich sollte man immer nach einer gewissen Toleranz streben, andererseits sollte man sich auch nicht immer alles gefallen lassen. Wo die Grenze liegt? Findet es selbst heraus.

Ich bin jedenfalls froh, dass diese Fragestellung unter guten Freunden kein Thema ist. Denn ich weiß, dass mein Mitbewohner mir den Spruch über seine Mutter bald verziehen haben wird, und dass der Abwasch noch erledigt wird, irgendwann in den nächsten Tagen. Und es ist ein beruhigendes Gefühl, dass er mir wegen meines Wutausbruches nicht böse sein kann. Immerhin will er ja tolerant sein. In diesem Sinne bleibt mein Herd heute eben kalt und ich gönne mir einen faulen Toleranz-Abend. Mit Pizza im Bett und einer Staffel „Breaking Bad“.