VON CLEMENS POKORNY | 30.04.2016 12:06

Christlicher Fundamentalismus

In Deutschland möchte sich niemand dem religiösen Fundamentalismus zurechnen lassen (anders als in den USA, wo das Wort anders konnotiert ist). Doch fundamentalistische Positionen werden im Christentum noch immer vertreten, wenn auch nicht so massiv wie etwa im Islam. Aber auch auf die derzeit im Aufwind befindliche Bewegung der Evangelikalen treffen viele Eigenschaften zu, die Fundamentalisten kennzeichnen.

In diesen Tagen wird viel in Europa über islamischen Fundamentalismus gesprochen. Interessierte politische und sonstige gesellschaftliche Parteien nutzen die weit verbreitete Angst vor dem Fremden für ihre Zwecke aus, indem sie suggerieren, jede Muslima und jeder Muslim sei ein Fundamentalist. Zwar ist eine konservative Auslegung des Koran deutlich verbreiteter als Wortgläubigkeit gegenüber Bibel und Tanach (der jüdischen „Heiligen Schrift“), aber es gibt auch fundamentalistische Christen und ihre Zahl nimmt möglicherweise derzeit sogar zu.

Ob dies der Fall ist, hängt auch davon ab, was genau unter dem Begriff „Christlicher Fundamentalismus“ gefasst wird. Traditionell kennzeichnen ihn drei Charakteristika: Erstens die sogenannte Wortgläubigkeit. Weil Fundamentalisten die Bibel als nicht zu hinterfragendes Wort Gottes betrachten und ihr Handeln an Gott und seinen Geboten auszurichten bestrebt sind, befolgen sie die Handlungsanweisungen in der Bibel wörtlich, zumindest soweit sie damit nicht gegen geltendes Recht verstoßen. Deshalb haben sie – zweitens – meist sehr konservative Werte, wenden sich unter Berufung auf das „Wort Gottes“ also gegen Homosexualität, Abtreibung und Sterbehilfe. Und drittens grenzen sie sich klar gegenüber anderen christlichen Kirchen und Strömungen ab, weil sie sich im Besitz der alleinigen Wahrheit dünken.

Derart engstirnig Denkende gibt es in allen großen Richtungen des Christentums. Unter den Orthodoxen, die die Rechtgläubigkeit schon im Namen tragen, zeichnen sich die Fundamentalisten vor allem durch Beharren auf Traditionen und die Ablehnung des Dialogs mit Vertretern westlicher Kirchen aus. Sie finden sich heute etwa in der Mönchsrepublik Athos in Griechenland, deren Gebiet von Frauen nicht betreten werden darf. Katholische Fundamentalisten teilen die sehr konservativen Werte mit den fundamentalistischen Orthodoxen und lehnen die historisch-kritische Methode der Bibelauslegung, also die Relativierung der „Heiligen Schrift“ durch Einordnung in ihren (geistes-)geschichtlichen Kontext, ab. Besonders in den USA gibt es schließlich zahlreiche protestantische Fundamentalisten, die in kleinen Gemeinden die Bibel lesen, meist unter patriarchaler Leitung, die nur ihre eigene Deutung des „Wortes Gottes“ gelten lässt. Zudem müssen fundamentalistische Protestanten sich ihrem Geschlecht entsprechend kleiden (z.B. lange Röcke für die Frauen), ihnen ist die Nutzung von Unterhaltungsveranstaltungen und -medien untersagt und sie lehnen die Ökumene strikt ab.

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Ob die derzeit expandierenden Evangelikalen als fundamentalistisch bezeichnet werden können, ist umstritten. Immerhin assoziieren viele Menschen mit Deutsch als Muttersprache mit „Fundamentalismus“ extremistische Positionen und intolerantes Verhalten – kein Etikett, das eine Religionsgemeinschaft sich gerne ans Revers heften lässt. Aber die Evangelikalen, die verschiedenen protestantischen Strömungen angehören und eine persönliche Beziehung zu Jesus in das Zentrum ihres Glaubens stellen, beziehen sich oft auf Fundamente des Christentums, die von der Mehrheit der Gläubigen, aber auch innerhalb der akademischen Theologie kaum mehr geteilt wird: Sie lehnen die Liberale Theologie ab, die sich von Dogmen gelöst und die Säkularisierung zu integrieren versucht hat. Wie unumstritten als Fundamentalisten zu Bezeichnende weisen sie auch die historisch-kritische Exegese zurück, weil sie die Bibel als von Gott inspiriert ansehen. Und Mennoniten, Baptisten, die Evangelisch-methodistische Kirche, die Siebenten-Tags-Adventisten, die Gemeinden Christi, die Brüderbewegung, die Kirche des Nazareners oder die Heilsarmee lehnen zumindest nicht-christliche Religionsgemeinschaften als religiöse Irrwege ab. Auf den überkonfessionellen Pro-Christ-Veranstaltungen, mit denen vor allem Evangelikale alle zwei Jahre mit Großveranstaltungen in Deutschland missionieren, positionierte sich ein hochrangiger Vertreter der Evangelikalen gegen Homosexuelle, ohne dass ihm von der Dachorganisation der Evangelikalen, der Deutschen Evangelischen Allianz widersprochen worden wäre. Die Deutsche Evangelische Allianz hat auch Biologielehrkräfte unterstützt, als diese dafür kritisiert wurden, die biblische Schöpfungsgeschichte als Alternative zur Evolutionstheorie zu vermitteln.

Die deutschen Evangelikalen mag man als Fundamentalisten betrachten oder nicht; Gefahr geht von ihnen nicht nur wegen ihrer geringen Zahl (1-3% der deutschen Bevölkerung) nicht aus. Auch andere Christen, deren Einschätzung als Fundamentalisten breitere Zustimmung findet, untergraben Recht und Ordnung unserer Gesellschaft nicht, auch wenn sie derzeit in der evangelischen Kirche an Einfluss gewinnen. Solange sie selbst sich tolerant verhalten, also anderen deren Glauben lassen und nicht gewaltsam für ihre Werte eintreten, wäre es intolerant, ihnen ihrerseits ihren Glauben nehmen zu wollen. Toleranz gegenüber dem Fundamentalismus wie gegenüber Religionen überhaupt verbietet aber nicht, sich über diese lustig zu machen, wie dies der Religionskritiker Michael Schmidt-Salomon in einem empfehlenswerten Kinderbuch getan hat.