VON MAXIMILIAN REICHLIN | 20.05.2016 14:18

Gegen das Dagegensein – Der Artikel, der die Fantasy beschützen will

Der britische Schuldirektor Graeme Whiting wettert gegen die Fantasyliteratur. Bücher wie „Harry Potter“ oder „Der Herr der Ringe“ seien gefährlich, vor allem für Kinder, die noch nicht über die nötigen psychologischen Ressourcen verfügen, um sie zu verstehen. Whitings Blogeintrag hat in den Medien zu einer öffentlichen Debatte über Fantasyliteratur angeregt, viele Kommentare stellen ihn auf eine Stufe mit bücherverbrennenden Diktatoren. Zurecht, finde ich. Denn wenn wir unsere Kinder zu aufgeschlossenen und toleranten Menschen erziehen wollen, sollten wir uns ihrer Literatur gegenüber nicht verschließen.


Kinder haben kein denkendes Gehirn. Diese Aussage stammt nicht von mir, sondern von Graeme Whiting, dem Direktor der renommierten Acorn School im englischen Gloucestershire. Der Pädagoge hat sich jüngst in einem Beitrag zum Blog seiner Schule dafür ausgesprochen, jungen Kindern den Zugang zu Literatur zu verbieten, genauer: zu Fantasy-Literatur. Whiting nennt als Beispiel etwa Fantasy-Bücher wie „Die Tribute von Panem“ von Suzanne Collins oder George R. R. Martins populäre Reihe „Das Lied von Eis und Feuer“, besser bekannt unter dem Titel „Game of Thrones“. Selbst seine eigenen Landsleute lässt der Direktor nicht gut wegkommen, und wettert auch gegen Tolkiens Epos „Der Herr der Ringe“, Rowlings „Harry Potter“ und das Gesamtwerk des im vergangenen Jahr verstorbenen Terry Pratchett (möge er in Frieden ruhen).

Whiting: Shakespeare ist schön, Tolkien ist gefährlich

Der Grund für Whitings Abneigung gegen die Fantasy-Literatur: Sie sei in hohem Maße suchtfördernd, mache die Kinder also abhängig, und störe obendrein deren psychische Entwicklung, könne sie sogar „krank“ machen. Es sei weithin bekannt, dass Kinder noch keine denkenden Gehirne hätten, die bekämen sie erst im Alter von ungefähr 14 Jahren. Vor diesem Zeitpunkt sollte „gefährliche Literatur“ unbedingt von ihnen ferngehalten werden, stattdessen sollten Eltern ihren Nachwuchs mit klassischer Literatur „kurieren“ - sie also statt Tolkien lieber Shakespeare, Dickens, Shelley oder Keats lesen lassen. Entschuldigung, bitte was?

Ich meine, natürlich, es mag problematisch sein, dass junge Menschen sich nicht mehr für Weltliteratur interessieren. Und viele von den Büchern, die Whiting in seiner Tirade nennt, finde ich selbst auch nicht eben toll. Zum Beispiel spricht mich „Die Tribute von Panem“ überhaupt nicht an. Ich würde es auch begrüßen, wenn die Schüler im Unterricht wieder mehr Klassiker behandeln würden, Dickens und Shakespeare eingeschlossen. Aber deswegen verbiete ich noch lange keinem Kind, die „Hunger Games“ zu lesen, auch wenn ich es für Schund halte, und ich haue niemandem den „Kaufmann von Venedig“ ins Gesicht, denn ich sehe ein, warum man ihn langweiliger finden könnte, als glitzernde Vampire und halbnackte Werwölfe. Dass junge Menschen überhaupt wieder eine Art von Literatur gefunden haben, die sie schätzen, ist doch schon ein Gewinn. Warum dagegen ankämpfen, Mister Whiting?

Für die Toleranz von Fantasyliteratur

Gerade darum freut es mich ein wenig, dass die Resonanz auf Whitings Blogeintrag durch die Bank dermaßen kritisch ausfällt. Da antwortet die Autorin Samantha Shannon dem besorgten Direktor im „Guardian“, indem sie die Gewaltdarstellungen in „Harry Potter“ mit denen in Shakespeares „Titus Andronicus“ vergleicht – und die berechtigte Frage stellt, wessen Grausamkeit dem kindlichen Verstand eher schaden könnte, die von Rowling oder die vom guten alten William. Die „Sun“ indes nimmt Whitings Vorstoß gegen die Fantasy-Literatur mit Humor, bezeichnete den Direktor als „Dumble-bore“.

Ich finde das großartig! Hier wird Jugendkultur verteidigt, Engstirnigkeit belächelt, falsche Ansichten aufgedeckt – und nicht zuletzt für die Toleranz eingetreten. Denn wenn wir bereits unseren Kindern unter fadenscheinigen Ausflüchten das verbieten, was uns missfällt, wie sollen sie dann jemals lernen, mit dem, was ihnen möglicherweise in Zukunft missfallen könnte, anders umzugehen? Von „Harry Potter“ zum Koran, von „Der Herr der Ringe“ zum „Anarchistischen Kochbuch“, von „Hunger Games“ zu den „Vagina-Monologen“ ist es in diesem Sinne kein weiter Schritt. Es ist kein Zufall, dass einige der katastrophalsten Umwälzungen in unserer Geschichte oft von Bücherverbrennungen begleitet wurden.

Stattdessen sollten sich besorgte Eltern, die keinen Zugang zur „Fantasy“ ihrer Kinder bekommen können, mit ihren Sprösslingen in Dialog setzen. Fragen, warum das Kind „Harry Potter“ lieber hat als den „Sommernachtstraum“ oder Katniss Everdeen cooler findet als Oliver Twist. Ein ernst gemeinter Rat: Erwachsene (und vor allem Lehrer) sollten der Kinderliteratur gegenüber wieder mehr Toleranz zeigen. Es könnte sich lohnen. Vielleicht entdecken sie dabei ihr neues Lieblingsbuch? Aber um die „Schönheit“ einer Geschichte, die Whiting den Kindern unbedingt in Form von Shakespeare näher bringen will, zu erkennen, muss man sie zunächst einmal begreifen.

Der Fantasy Roman - ein komplexes Literaturgenre

Wo Whiting sich irrte: Fantasy ist nicht gleich Fantasy

Dass der Direktor das nicht tut, zeigt sein Blogeintrag ganz zweifelsohne. Man muss sich daher fragen, woher Mister Whiting die fachliche Kompetenz zu nehmen glaubt, sich zu solch einem Thema überhaupt in dieser Form zu äußern. Das frage ich mich nicht mehr als Fan von Fantasy-Literatur und auch nicht als Verfechter der Toleranz, sondern vielmehr als Literaturwissenschaftler: Den „Herrn der Ringe“, eines der größten und sprachlich elegantesten Epen unserer Zeit, in einen Topf zu werfen mit Trivialliteratur wie „Twilight“ oder der „Panem-Reihe“, lässt einen Mangel an Sachverstand erkennen, der einen erschaudern lässt.

Die Frage, die sich schlussendlich aufdrängt, ist: Wer hat Mister Whiting in seiner Kindheit wohl verboten, Shakespeare zu lesen, obwohl er ihn so gern gehabt hat? Für mich wäre das die einzige Erklärung dafür, dass der Direktor es seinen Schützlingen nun unbedingt mit gleicher Münze heimzahlen will. Kindern jedoch generell die Fähigkeit zum Denken abzusprechen und daher die Vielfalt ihrer Fantasy-Literatur einschränken zu wollen, anstatt sie noch um neue fantastische Beiträge zu bereichern – gibt es für diese Form der Intoleranz im 21. Jahrhundert noch eine adäquate Entschuldigung?