VON JASCHA SCHULZ | 27.05.2016 15:13

Vorurteile: Garanten des Zusammenhalts der Gesellschaft oder Laster des modernen Zeitalters?

Vorurteile erfüllen für den Menschen eine wichtige Funktion: Sie vereinfachen und ordnen die schier unübersichtlichen Informationen der Umwelt und machen uns somit handlungsfähig. Allerdings führt ein vorschnelles Urteilen häufig auch zu Stereotypen und Ressentiments, die zur Diskriminierung gesamter Gruppen führen können. Der Autor hat sich ein Bild davon gemacht, wie Vorurteile in einer Gesellschaft entstehen und was der einzelne dafür tun kann, diese abzubauen.

Vorurteile sind wichtig. Das ist, vor allem unter den aktuellen gesellschaftlichen Umständen, eine gewagte These. Allerdings ist sie schwer zu widerlegen. Zumindest wenn man von einem weiten Vorurteilsbegriff ausgeht: Wenn ein Vorurteil ein Bild ist, dass man sich von einer Gruppe macht, ohne alle einzelnen Merkmale der verschiedenen Glieder dieser Gruppe miteinfließen zu lassen, dann sind wahrscheinlich alle unsere Kategorisierungen Vorurteile. Aber ohne Kategorisierungen, wäre der Mensch weder überlebens- noch handlungsfähig. Der Philosoph Max Horkheimer formulierte dazu folgende Sätze: „Im Dschungel der Zivilisation reichen angeborene Instinkte noch weniger aus als im Urwald. Ohne die Maschinerie der Vorurteile könnte einer nicht über die Straße gehen, geschweige denn einen Kunden bedienen“. Ohne Vorurteile könnten wir nicht einmal miteinander kommunizieren, da eine Begriffsbildung auch gleichzeitig immer eine Vorurteilsbildung bedeutet. Denn Begriffsbildung ist nichts weiteres, als die Zusammenführung von ähnlichen, aber trotzdem in vielem unterschiedlichen Elementen, die in der Umwelt wahrgenommen werden, unter ein übergeordnetes Konzept. Die Vielfalt der wahrgenommenen Wirklichkeit wird auf diese Weise zu bündeln versucht. "Vorurteile sind Übergeneralisierungen unseres Gehirns", sagt Beispiel Martin Korte, Hirnforscher an der TU Braunschweig. Das Hirn spare auf diese Weise Energie für andere Denkvorgänge. In dem Buch „Understanding Prejudice and Discrimination“ ist deshalb eine der wichtigsten Erkenntnisse: Niemand, der über Intelligenz und Sprache verfügt, ist dagegen immun, Vorurteile zu hegen. Konzepte geben uns Orientierung und machen uns handlungsfähig. Es ist daher schon funktional unvermeidlich, Kategorisierungen vorzunehmen. Vor allem früher war die durch Vorurteile gesteuerte Handlung überlebensnotwendig. Man musste erkennen, ob ein Mensch zur eigenen oder zu einer anderen Gruppe gehörte, da von Fremden zumeist Gefahr ausging. Diese Verhaltensweisen hat der Mensch nicht abgelegt. Zeigt man ihm Bilder von Mitgliedern anderer Ethnien wird im Gehirn besonders jenes System stark aktiviert, das mit Furcht und Flucht zusammenhängt: die Amygdala. Beim Anblick von Menschen der eigenen ethnischen Gruppe dämpft hingegen der präfrontale Cortex die Reaktion der Amygdala. Die geschieht so schnell, dass wir es nicht wahrnehmen. Auf diese unbewusste Weise laufen viele Formen der Informationsverarbeitung ab. Sieht man zum Beispiel eine dunkle Gestalt nachts auf der Straße, rechnen Nervenzellen unmittelbar die potenzielle Gefahr durch und aktivieren die zuständigen Areale. Auch wenn der oder diejenige in Wirklichkeit gar nicht gefährlich ist, reagieren wir auf eine Weise, die uns vor einer möglichen Gefahr schützen soll.

Man erkennt relativ schnell, wann es Probleme bei der Kategorienbildung des Menschen geben kann. Nämlich dann, wenn eine Kategorie anhand nur weniger oder gar keiner Realitätserfahrungen und ohne Reflexion gebildet wird. Außerdem ist es problematisch, wenn die Kategorie wertende Urteile über gesamte Gruppen fällt: Z.B.: „Alle Soldaten sind Mörder“, „Alle Blondinen sind dumm“, „Alle Banker sind gierig und moralisch korrupt“. Insbesondere wird es schwierig, wenn die gewonnene Einstellung unveränderlich ist, also nicht durch Gegenmeinungen oder neue, gegensätzliche Erfahrungen ins Wanken geraten kann. Bildet sich ein Mensch Kategorien auf diese Weise, dann kann man ihn tatsächlich auch in einem engeren Sinn vorurteilsbehaftet nennen.

Negative Einstellungen gegenüber ganzen Gruppen von unterschiedlichen Menschen sind gefährlich, denn sie bestimmen unser Handeln gegenüber diesen Menschen. Wenn alle arbeitslose Personen faule Schmarotzer sind, warum soll ich dann als Politiker eine soziale Absicherung für Arbeitslose befürworten? Oder angenommen, man denkt, alle übergewichtigen Personen seien bloß bewegungsfaul sind und lustlos, ihre Essgewohnheiten zu ändern? Warum sollen dann Krankheiten, die aufgrund des Gewichts entstehen, von der Krankenkasse bezahlt werden? Hier wird auch die wichtige Rolle der Medien und Politiker deutlich. Wenn das Gehirn die Informationen aufsaugt, die ihm in der Umwelt begegnet, dann ist eine ausgewogene Berichterstattung evident. Wenn nach einem Anschlag Medien und Politiker ständig von Selbstmordattentätern und dem Islam sprechen, dann speichern wir diese Assoziation und rufen sie auch in anderen Situationen wieder ab. Und bei der Berichterstattung über Terroranschläge könnte tatsächlich der Eindruck entstehen, der islamische Fanatismus hätte den Terrorismus für sich gepachtet, was nach dem Global Terror Index nachweislich falsch ist.

Auf diese Weise führen Vorurteile zur Abwertung und Diskriminierung gesamter Menschengruppen. Unfassbarer Weise haben hierzulande Menschen mit türkischen Namen immer noch eine 24 Prozent geringere Chance zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden. Es gebe „unbewusste Assoziationen, Vorurteile und darauf aufbauend Vorbehalte gegen Lehrlinge mit ausländischen Wurzeln“, so die Verantwortlichen der betreffenden Studie. Diese Art der Diskriminierung gilt nicht nur für den ethnischen und religiösen Bereich. So weist eine Untersuchung der Einstellung von Lehrpersonal darauf hin, dass Namen von Schülerinnen und Schülern wie Chantal, Mandy oder Kevin eher mit Leistungsschwäche und Verhaltensauffälligkeit in Verbindung gebracht werden. Dies geschieht unabhängig von den tatsächlichen Schulleistungen der entsprechenden Kinder. Die Gefahr, dass diese schlechter bewertet werden, besteht durchaus, wie eine weitere Studie des Harvard Psychologen Robert Rosenthal und der Grundschuldirektorin Leonore Jacobson zeigt. Diese erzählten Lehrern, dass einige Schüler kurz vor einem intellektuellen Entwicklungsschub stünden, was anhand wissenschaftlicher Tests ersichtlich sei. Die Kinder waren allerdings völlig willkürlich ausgewählt. Als die Forscher acht Monate später die Leistungen verglichen, konnten die besagten Kinder in einem IQ-Test tatsächlich mit weit besseren Leistungen als zu Beginn der Studie glänzen. Die veränderten Erwartungen der Lehrer gegenüber den Schülern hatten auch das Verhalten dieser gegenüber den Schülern geändert. Die willkürlich getroffene Aussage der Wissenschaftler war Realität geworden.

Auch unser eigenes Selbstbild kann durch Vorurteile der Gesellschaft ins Wanken geraten. Bei einem Leistungstest der Stanford University schnitten Afroamerikaner schlechter ab, wenn sie zuvor mit ihrem Namen und Alter auch ihre Hautfarbe angeben mussten. Anscheinend hatten sie das in den USA leider immer noch häufige Bild des „ungebildeten Schwarzen“ auch selbst übernommen. Das lässt vermuten: Sobald sich Menschen zu einer Gruppe zugehörig fühlen, handeln sie häufig den Erwartungen der Gesellschaft an diese Gruppe entsprechend.

Die Einteilung von Menschen in Gruppen geschieht allerdings automatisch. Der Mensch will nicht nur die Dinge seiner Umwelt, sondern auch andere Menschen und sich selbst in Ordnungskategorien zuordnen können. Um die eigene Gruppe zu etablieren, muss diese von anderen Gruppen abgegrenzt werden können. Denn wenn alle Gruppen gleich wären, gäbe es keine Gruppen mehr. Auf diese Weise entstehen oft Stereotypen, die die eigene Gruppe aufwerten, während andere abgewertet werden. Je größer der kulturelle und optische Unterschied zwischen den Gruppen ist, desto stärker ist dieser Effekt häufig. Eine der bekanntesten Gruppenbildungen ist die der Nationenbildung. Der Grat zwischen Patriotismus (Gefühle von Zugehörigkeit und Stolz bezogen auf die eigene Nation) und Nationalismus (Überhöhung der eigenen Nation und Herabsetzung anderer Nationen) ist dabei häufig fließend.

Ohne Angst verschieden sein

Unterordnung und Assimilierung

Eine besonders fatale Wirkkraft können Vorurteile dann entwickeln, wenn es zu „negativen Interdependenzen“ bei Gruppenzielen kommt. Das bedeutet: Das Erreichen des Ziels der einen Gruppe tritt in Konflikt mit dem Erreichen des Ziels einer anderen, zum Beispiel bei Sportwettkämpfen. Bei ethnischen oder nationalen Gruppen kommt es zu negativen Interdependenzen, wenn ein Kampf um Ressourcen wahrgenommen wird, unabhängig davon, ob dieser wirklich existiert. Aufgrund scheinbar knapper Güter wird die andere Gruppe abgewertet, um eine Ressourcenverteilung zu Gunsten der eigenen Gruppe zu rechtfertigen. Im Falle der Flüchtlingsthematik spielen solche Verteilungskriege eine eminente Rolle in der politischen Diskussion. Um nicht in Konkurrenz mit den Flüchtlingen treten zu müssen, werden diese von rechten und rechtspopulistischen Parteien zu einer homogenen Gruppe geformt: Arabisch, muslimisch, jung, männlich, ungebildet, integrationsunwillig, unvereinbar mit der ‚deutschen Kultur‘. Dadurch soll gerechtfertigt werden: Eine Bevorzugung der ‚Deutschen‘, die aufgrund ihrer Geschichte und ihrer Kultur ‚hierhin‘ gehören. Diese Bevorzugung gilt dann bei Fragen der finanziellen und materiellen Güterverteilung, des Raum- und Wohneigentums, sowie politischer und allgemein gesellschaftlicher Teilhaberechte. Deutlich wird hierdurch: Fremdenfeindlichkeit entsteht zwar einerseits über Aufwertung der eigenen Gruppe, die mit der Abwertung einer anderen, oder gegensätzlichen einhergeht. Andererseits ist es aber häufig auch die Angst davor, bei einer Ressourcenverteilung zu knapp zu kommen, die eine Abneigung gegen fremde Gruppen erst entstehen lässt.

Was aber kann man tun, um Vorurteile abzubauen? Zunächst ist es wichtig, sich diese selbst einzugestehen. Das ist häufig der schwierigste Schritt. Wir alle haben bestimmte Erwartungen an verschiedene Gruppen. Wir alle verknüpfen ein gewisses Bild mit Bankern, Hipstern, Schwarzen, Weißen, berufstätigen Frauen oder Muslimen. Wir erwarten von Friseurinnen ein anderes Verhalten als von Politikern, von Obdachlosen ein anderes als von Models. Wir müssen diesen Denkstrukturen, auch wenn sie uns häufig nicht bewusst sind, gewahr werden. Nur dann können wir sie aufbrechen, über sie reflektieren und sie abbauen.

Markus Schega, Schulleiter der Nürtingen-Grundschule in Berlin-Kreuzberg, hat diesen Prozess selbst durchgemacht. "Es ist schwer, sich seine Vorurteile einzugestehen, aber es hilft nichts, anders kommen wir da nicht raus", sagt Schega. Eines Tages ertappte er sich dabei, dass er eine Praktikumsbewerbung weglegen wollte, obwohl diese sehr gute Noten und ein tolles Motivationsschreiben aufweisen konnte: Das Foto zeigte eine junge Frau mit Kopftuch. Umgehend organisierte Schega für alle Lehrer seiner Schule ein Diversity-Training, an dem er selbst häufig teilnahm.

Schon bald konnte Schega von einem ersten Erfolg berichten: Einst bestand eine Klasse bei Schulbeginn fast ausschließlich aus Jungen. Lehrer befürchteten, der Alltag mit der Klasse könne unbändig wild werden. Sie besprachen den Fall in der Konferenz. "Sobald wir das Bild ›Junge gleich wild‹ aufbrachen und uns die einzelnen Kinder ansahen, löste sich das Problem auf", sagt Schega. "Wir erkannten, dass die Schüler sehr gut zusammenpassten."

Der Fall zeigt: Wir alle haben Vorurteile, sind aber frei, diese nicht zu endgültigen Urteilen werden zu lassen.