Wir scheinen in einer mehrheitlich toleranten Gesellschaft zu leben. Das lässt sich vor allem an den Freiheiten erkennen, die allen Bürgerinnen und Bürgern zustehen: Von der Freizügigkeit über die freie Berufswahl bis hin zu Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit. Dass jeder und jedem diese Freiheiten zugestanden werden, hat ein breites Spektrum an individuellen Entscheidungen, Überzeugungen und Meinungen hervorgebracht. Bedingung der Bewahrung dieser Vielfalt ist die Toleranz jeder und jedes Einzelnen gegenüber der Individualität aller anderen. „Toleranz“ bedeutet dem Wortsinn nach das Ertragen einer „Last“. Es ist also legitim, eine fremde Meinung oder Handlungsweise als belastend zu empfinden, die demgemäß durchaus kritisiert oder verspottet werden darf, aber diese muss um der Freiheit aller willen hingenommen werden. Somit unterscheidet sich Toleranz von Respekt als neutraler „Rücksichtnahme“ auf andere und mehr noch von Akzeptanz als positivem „Annehmen“ des anderen. Forderungen nach Toleranz gehören im gesellschaftlichen Mainstream längst zum guten Ton, wo immer Intoleranz erkannt wird. Alleine durch die (in der Regel positiv kommentierte) Berichterstattung von Zeichen gegen Intoleranz (z.B. Gegendemonstrationen in Reaktion auf Aufmärsche von FlüchtlingsgegnerInnen und Neonazis) wird einem großen Publikum der Eindruck vermittelt, dass Toleranz ein hohes Gut sei und Intoleranz vor allem gegenüber Minderheiten begegnet werden müsse. Verdienten sie nicht eher „Respekt“ anstatt als eine „Last“ hingenommen zu werden? Doch auch wenn man sich nun mit Toleranz zufrieden geben will: Sie darf nicht verabsolutiert werden. Dies ist aber der Fall, wenn Toleranz für Personen oder Zustände gefordert wird, die keinen Anspruch darauf erheben können.
Solche Gedanken sind im Laufe der Geschichte schon mehrfach geäußert worden, zuletzt prominent von dem Philosophen Herbert Marcuse (1898-1979). Der linke Denker beklagte in seinem 1970 erschienenen Aufsatz „Repressive Toleranz“, dass ausgerechnet in Gesellschaften, die erst durch Forderungen nach und durch gelebte Toleranz aus geknechteten Zuständen (z.B Feudalismus) sich befreit hatten, allzu große Toleranz gegenüber intolerablen Zuständen herrsche. Die Menschen in solchen vermeintlich fortschrittlichen Ländern übten eine falsche Toleranz gegenüber etablierten Strukturen, auch wenn deren negative Auswirkungen auf Mensch und/oder Natur offensichtlich sei, sowie eine offizielle Toleranz gegenüber Andersdenkenden, mit der ex negativo gerade die angebliche Norm zementiert werde, indem zugleich fortschrittlichere Tendenzen in der Gesellschaft als tolerabel, also aber auch zugleich jenseits des angeblichen Mainstreams markiert würden. Toleranz werde so zum Herrschaftsinstrument, indem sie das Fortschrittlichere als Minderheitsmeinung diskriminiere. Daher nennt Marcuse sie „Repressive Toleranz“: eine Haltung, durch die das herrschende gesellschaftliche System mit all seinen negativen Aspekten sich selbst stütze und dabei auch noch den Anschein von Pluralismus für sich beanspruche.
Dass die linken gesellschaftlichen Gegenmodelle zum herrschenden Kapitalismus im 20. Jahrhundert glücklicherweise krachend gescheitert sind, hätte Marcuses Forderungen – hätte er das Jahr 1990 erlebt – keinen Abbruch getan. Noch heute toleriert die Mehrheit bei uns ja, dass in Deutschland Kriegswaffen hergestellt und in aller Welt auch zur Durchsetzung der Interessen unserer Wirtschaft eingesetzt werden. Noch heute wird die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen durch die Industrie (Emissionen, Regenwaldrodung für Palmöl, ...), aber auch durch den mehrheitlich in den hochentwickelten Ländern gepflegten Lebenswandel weitgehend ungebremst fortgesetzt. Immer erschreckendere Klimaperspektiven, tausendfachen Mord oder millionenfache Vertreibung nehmen wir einfach hin, ohne auf die Ursachen zu sehen, und richten unseren Zorn, wenn überhaupt, auf Unschuldige (Flüchtlinge) oder vergleichsweise marginale Probleme (z.B. religiös motivierte Terroristen).