VON LISI WASMER
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10.05.2013 17:41
Die Freiheit des Verzichts
Staat, Kultur, Wirtschaft, Religion – allein auf dem allmorgendlichen Weg zur Arbeit begegnen wir mehr Regeln und Gesetzen, als wir überhaupt bewusst kennen. Was bedeutet das für unser Selbstverständnis als freie Menschen? Was bedeutet es frei zu sein? Und muss eine persönliche Einschränkung zugunsten eines höheren Gutes tatsächlich einen Freiheitsverzicht bedeuten?
Wenn dieser Tage in der Politik über den Ausbau der Videoüberwachung im öffentlichen Raum diskutiert wird, sind sie die ersten, die auf den Plan treten: Verfassungshüter, die für die Gewährleistung der Grundrechte verantwortlich sind. Es geht um Privatsphäre, um Selbstbestimmung und somit im weiteren Sinne ganz grundlegend um die Freiheit des Einzelnen – ein Gut, dass uns ebenso wertvoll wie schützenswert zu sein scheint, gleichzeitig aber nur schwer konkret zu fassen ist.
Ein Appell für mehr Freigeist!
In Zeiten schwankender Wirtschaft, Stagnation auf dem Arbeitsmarkt und einer ständig wachsenden Scheidungsrate streben die Menschen mehr denn je nach Sicherheit. Aber warum?
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Vielleicht ist es diese Unbestimmtheit der Freiheit, die uns verwundert oder doch zumindest beeindruckt zurücklässt, wenn andere freiwillig auf ihre Freiheit verzichten. Gemeint sind hier Menschen, die sich für Lebensformen entscheiden, welche stark von Strukturen oder Verhaltensprinzipien geprägt sind. Das Klosterleben wäre hier ein geeignetes Beispiel. Oder Subkulturen wie Straight Edge. Trotzdem verstehen sich Anhänger dieser Lebensformen beileibe nicht als unfrei. Worin aber liegt ihre Freiheit dann begründet?
Unbemerkter Freiheitsverzicht im Alltag
Es mag wohl die ausgeprägte Reglementierung durch klösterliche, beziehungsweise religiöse Vorschriften sein, wegen der uns das Leben eines Mönchs vordergründig als wenig ungebunden oder „frei“-zügig erscheint. Im Grunde ist die Diskrepanz zwischen einem solchen und einem weltlichen Leben in dieser Hinsicht jedoch kaum mehr als ein Vorurteil aufgrund mangelhafter Heuristiken. Denn es mag sein, dass wir uns vielleicht nur deshalb als freier empfinden, weil wir viele Einschränkungen einfach nicht als solche wahrnehmen.
Dabei bleibt zu bedenken, dass wir alle Teil einer Gesellschaft sind, die durch unzählige Normen, Regeln und Gesetzen geordnet ist (als Anhaltspunkt: Das
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland hat als gebundene Ausgabe sagenhafte 1248 Seiten). Und auch, wenn man Motivatoren wie Glaube oder Ideologien außen vor lässt, so unterwerfen wir uns doch alle Tag ein Tag aus einer Mannigfaltigkeit an Prinzipien und begrenzen uns so zumindest mehr oder weniger freiwillig in unserer Freiheit.
Sich neue Freiheiten schaffen
Abgesehen von der Legislative wird unser Verhalten etwa von gesellschaftlichen Normen oder sozialen Umgangsformen bestimmt, wobei unser Handeln hier oft unbewusst geschieht, beziehungsweise, „weil wir es nun mal so gelernt haben“. Konsequent zu Ende gedacht fallen hierunter schon Dinge wie das freundliche Grüßen des Nachbarn am Gartenzaun.
Ein anderer Faktor, der bestimmend auf fast alle Bereiche unseres Lebens Einfluss nimmt, ist der monetäre. Makroskopisch ist hier die soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsordnung der BRD zu nennen, mikroskopisch kann auch vom deutschen „Durchschnittsbürger“ ausgegangen werden, der wöchentlich ca. 40 Stunden seiner „Frei“-Zeit opfert, um Geld zu verdienen. Gerade dieses Gefüge ist es, das von manchen Menschen als inakzeptable Freiheitsberaubung empfunden wird. Der in Deutschland wohl bekannteste Aussteiger ist Jürgen Wagner alias Öff Öff. Mit seinem Ideal von einem
Leben ohne Geld ist er aber bei Weitem nicht allein.
Freiheitsverzicht aus freien Stücken
Selbstverständlich beinhaltet ein solches Leben auch Entbehrungen. Im Fall von Öff Öff sind es die Annehmlichkeiten der „Zivilisation“, also Güter wie eine feste Unterkunft oder auch Internet und Handy. Straight Edger verzichten freiwillig auf den Konsum von Alkohol, Drogen oder Sex mit häufig wechselnden Geschlechtspartnern, teilweise auch auf den Verzehr von Fleisch. Mönche wiederum verzichten je nach Ordnungszugehörigkeit zum Beispiel auf privaten Besitz oder – in Hinsicht auf den Zölibat – auf Geschlechtsverkehr per se.
Was all diesen Verzichtsformen gemein ist, ist die Aufgabe gewisser Güter aus freien Stücken. Inwiefern das letzten Endes eine Freiheitsbeschneidung bedeuten muss, bleibt Definitionssache. Versteht man Freiheit in Anlehnung an Peter Bieris „
Das Handwerk der Freiheit“ vordergründig als die Möglichkeit, sich für, beziehungsweise gegen etwas entscheiden zu können, so kann eine selbstgewählte Lebensform die persönliche Freiheit gar nicht anfechten.
Gleichzeitig gehört es auch zu unserem Selbstverständnis als mündige Menschen, dass wir unmittelbare Bedürfnisse unbefriedigt lassen, um auf längere Sicht ein für uns bedeutenderes Gut zu erreichen – eine Eigenschaft, die nicht angeboren ist, sondern sich erst im Laufe der persönlichen Entwicklung erwerben lässt, wie der Persönlichkeitspsychologe Walter Mischel im (zugegebenermaßen leicht sadistischen, aber auch sehr amüsanten) Marshmallow-Experiment bewies: Er stellte Kinder zwischen drei und sechs Jahren vor die Wahl, eine Süßigkeit entweder sofort zu essen, oder sie 15 Minuten unangetastet zu lassen, um dann mit der doppelten Menge Süßigkeiten belohnt zu werden. Ein (zugegebenermaßen leicht sadistisches, aber dennoch sehr amüsantes)
Internetvideo zeigt, welchen Einfluss solche Versuchungen auf uns ausüben können – in diesem Fall auf die Entscheidungsfreiheit der jungen Probanden.