VON SUSANNE BREM | 11.07.2016 13:20

„Armutszeugnis“ für Industriestaaten: immer mehr Bedürftige in reichen Ländern

Die International Labour Organization (ILO) hat jüngst einen neuen Bericht veröffentlicht. Der Kampf gegen die Armut in Entwicklungs- und Schwellenländern zeigt demnach Wirkung: Die Armut dort hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten halbiert. Schlechter sieht es dagegen in einigen Industrieländern aus, denn wie die ILO schreibt, wächst in den EU-Staaten die Anzahl an Menschen, die in die Armut abrutschen und am Existenzminimum leben. Wie kommt es ausgerechnet in den reichsten Nationen der Welt zu so einem Missstand? Und wie kann dieser Entwicklung entgegen gewirkt werden?

Der aktuelle Welt-Arbeitsmarktbericht der internationalen Arbeitsorganisation ILO legt brenzlige Zahlen vor: Aufs Jahr 2014 bezogen gelten gute 14 Prozent der Deutschen als arm (und 17,2 Prozent aller EU-Bürger). Besonders Arbeitslose sind betroffen (67 Prozent), allerdings sind auch Erwerbstätige nicht vor der Armut gefeit: Unter ihnen macht die ILO knappe zehn Prozent aus, die sogenannten „Erwerbsarmen“. Wo Armut beginnt, ist indes international klar definiert: Wer weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens in seinem Land monatlich zur Verfügung hat, ist bedürftig. In Deutschland sind das unter 11.840 Euro im Jahr, also knapp 987 Euro monatlich. Eigentlich sollen Sozialleistungen solche Defizite ausgleichen und die Möglichkeit sichern, ein würdiges Leben zu führen. Immer öfter reicht finanzielle Hilfe vom Staat aber nicht mehr aus und Menschen rutschen etwa trotz Arbeitslosengeld in die Armut.

Heißt Armut Hungern?

In Entwicklungsländern mündet Armut häufig in Hungersnot. In Deutschland haben arme Menschen damit verglichen allerdings noch verhältnismäßig viel Geld; ihre Armut zeigt sich an anderen Stellen: Fünf Prozent können die Heizung für ihre Wohnung nicht ordentlich bezahlen, sieben Prozent verzichten auf ein Auto, ein Fünftel fährt nie in Urlaub und ein ganzes Drittel der Armen in Deutschland gibt an, spontane Zahlungen von 1.000 Euro würden sie bereits stark in Bedrängnis bringen. Waschmaschine, TV und Telefon hingegen besitzt in der Regel jeder. Also nur Luxusprobleme? Nein, denn Armut ist relativ, sie misst sich daran, was der Durchschnitt an Vermögen hat und was man selbst zur Verfügung hat, um am gleichen Ort ein sicheres und menschenwürdiges Leben zu führen. Wichtig ist dabei auch das Armutsempfinden von Betroffenen; deshalb macht es wenig Sinn, die Armut eines Österreichers etwa mit der eines Afrikaners zu vergleichen, die sich in völlig unterschiedlichen sozialen Kontexten befinden und unterschiedliche Bedürfnisse haben.

Die Erbenrepublik

Der Plan: ordentliche Arbeitsplätze schaffen und sichern

Im internationalen Vergleich ist diese Entwicklung in Deutschland weniger durchschlagend. In den USA und der Schweiz etwa herrscht ein höheres Risiko auf Armut; das Risiko speziell für Arbeitslose, sich in der Bedürftigkeit wiederzufinden, ist allerdings nur noch in Litauen und Großbritannien höher. Woran liegt es, dass selbst Erwerbstätige arm sind und dass Sozialleistungen ihrem Zweck teilweise nicht mehr gerecht werden, gerade für Arbeitslose die Armut abzuwenden? Eine Ursache dafür wird auf die Weltwirtschaftskrise 2008 zurückgeführt: Seit dieser hat die Anzahl geringfügiger Beschäftigungen und Teilzeitanstellungen deutlich zugenommen. Eine Korrektur oder Lösung des Armuts-Missstandes sieht die ILO deshalb im langfristigen Sichern von Arbeitsstellen und dem Installieren von mehr Vollzeitbeschäftigungen. Wichtig sei laut ILO dabei, internationale Arbeitsstandards durchzusetzen und Arbeit nicht als Wohlstandssymbol zu markieren, sondern eng an die Würde, das Wohlbefinden und die persönliche Entwicklung des Menschen zu koppeln. Auch mit einem Fokus der Industrienationen auf ökonomische Fortschritte und Gewinne solle es zentral sein, Arbeitsplätze zu schaffen, in denen Menschen frei, sicher und in ihrer Würde unangegriffen arbeiten können. Das bedeutet eine Wirtschaftsentwicklung, die nicht um ihrer selbst willen angestrebt wird, sondern um das Leben von Menschen zu verbessern. Teilweise reagieren Länder schon darauf: Der Mindestlohn etwa wurde 2015 in Deutschland eingeführt, um die Armut hierzulande bekämpfen.