Die damalige Regierung sah tiefgreifende und langfristig wirksame Reformen als nötig an, um Deutschland, dem „kranken Mann Europas“, wieder zur Heilung zu verhelfen. Nach der Finanzkrise ab 2007 war die Arbeitslosigkeit in Deutschland auf einem Rekordhoch, das wirtschaftliche Wachstum war mau. Die Neuerungen durch Schröders „Vermächtnis“ betrafen deshalb vor allem Sozialstaat und Arbeitsmarkt, um wirtschaftlichen Aufschwung zu fördern und zu beschleunigen. Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe wurden zum Beispiel zum Arbeitslosengeld II zusammengefasst, unter dem Motto „Fördern und Fordern“ wurden dazu die Zumutbarkeitskriterien in der Auswahl der Erwerbstätigkeit für Arbeitssuchende verschärft und die Höchstbezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Menschen über 55 Jahre verkürzt. Zweck des Ganzen: Aktivierung – Menschen ohne Arbeit zügiger und wirksamer in die Erwerbstätigkeit zurückzubringen. Die Lohnnebenkosten wollte die Regierung außerdem gesenkt sehen, der Arbeitsmarkt sollte allgemein flexibler werden.
Was hat die Agenda 2010 eindeutig messbar bewirkt?
Seit Schröders Reformen haben sich verschiedene Veränderungen in Arbeitsmarkt und Wirtschaft ergeben: Die deutsche Wirtschaft ist leistungsfähiger geworden und hat sich in Sachen Beschäftigung, Exportstärke und Staatsverschuldung etwa besser entwickelt als die des vergleichbaren Auslands. Allerdings seien die positiven Entwicklungen der letzten Jahre nicht klar der Agenda 2010 anzurechnen und mehr eine Folge aus einer Mischung anderer Faktoren und Dynamiken wie der Weltwirtschaftskrise. So sind die Arbeitslosenzahlen in den letzten zehn Jahren zwar gesunken; allerdings wurde die Zählweise derjenigen, die als arbeitslos gerechnet werden, immer wieder geändert. Zum Beispiel fallen diejenigen heraus, die in ein Übergangsangebot gesteckt werden und einen EDV-Kurs absolvieren, obwohl sie damit noch immer fern eines dauerhaften Beschäftigungsverhältnisses sind. Dass die Arbeitslosigkeit in der Rezession 2009 nicht weiter angestiegen ist, schreiben Fachkreise außerdem eher der dieser Zeit verstärkt verbreiteten Kurzarbeit zu als den Reformen: 2009 wurden nur mehr 56 Milliarden Arbeitsstunden geleistet (gegenüber 58 Milliarden im Vorjahr), das bedeutet einen Einbruch um 2,7 Prozent. Vermehrte Beschäftigung dank der Agenda 2010? So klar ist dieses Fazit offenbar nicht zu ziehen.
Was bedeuten die Reformen heute im Alltag der Bürger?
Kritik zielt unter anderem auf die deutlich gestiegene Einkommensungleichheit ab. Durch die Kürzung der staatlichen finanziellen Hilfe ziehen kürzlich arbeitslos Gewordene auch unliebsame Arbeit eher und schneller in Betracht, um der Armut und dem sozialen Abstieg zu entgehen. Arbeitskraft sollte so mobilisiert werden. Was einerseits als „flexibler Arbeitsmarkt“ gelobt wird, bedeutet für den Arbeitsuchenden andererseits Niedriglöhne, Aushilfs- und Minijobs in prekären, unsicheren Arbeitsverhältnissen mit stärkerem Anteil an Zeitarbeit und ohne Tarifbindung. Gerade diejenigen, die in jahrelanger Erwerbstätigkeit ihre Arbeitsfähigkeit und ihren Willen dazu bezeugt haben, können auf keine staatliche Hilfe hoffen, ohne vorher Ersparnisse und Rücklagen aufzubrauchen. Sie sind seit den Reformen dazu gezwungen, ungeachtet ihrer vielleicht hochqualifizierten Ausbildung in den Niedriglohnbereich einzusteigen, schlechte Beschäftigungsverhältnisse mit langen Arbeitszeiten und kurzfristiger Austauschbarkeit in Kauf zu nehmen, um dem sozialen Abstieg zu entgehen. Deshalb werden der ausgeweitete Niedriglohnsektor und die vermehrt ungleiche Einkommensverteilung den Reformen als Effekte zugeschrieben.