VON SUSANNE BREM | 21.08.2017 13:23

Agenda 2010: ihr Weg von 2003 bis heute

14 Jahre liegt es zurück, dass der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder mit der Agenda 2010 seine umfassenden Strukturreformen angekündigt hat. Die rot-grüne Regierung hat sie in den darauffolgenden zwei Jahren umgesetzt. Heiß diskutiert, umstritten und bis heute immer wieder angezweifelt: Schröder peitschte seine Neuerungen dennoch durch; er bangte um den deutschen Sozialstaat, falls die damals auf ihrem Höhepunkt stehende Anzahl dauerhaft arbeitsloser Menschen weiterhin kontinuierlich steigen würde. War diese Angst berechtigt? Womit sollte die Agenda 2010 dagegen halten? Und: Welche Effekte haben sich bis heute daraus ergeben?

Die damalige Regierung sah tiefgreifende und langfristig wirksame Reformen als nötig an, um Deutschland, dem „kranken Mann Europas“, wieder zur Heilung zu verhelfen. Nach der Finanzkrise ab 2007 war die Arbeitslosigkeit in Deutschland auf einem Rekordhoch, das wirtschaftliche Wachstum war mau. Die Neuerungen durch Schröders „Vermächtnis“ betrafen deshalb vor allem Sozialstaat und Arbeitsmarkt, um wirtschaftlichen Aufschwung zu fördern und zu beschleunigen. Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe wurden zum Beispiel zum Arbeitslosengeld II zusammengefasst, unter dem Motto „Fördern und Fordern“ wurden dazu die Zumutbarkeitskriterien in der Auswahl der Erwerbstätigkeit für Arbeitssuchende verschärft und die Höchstbezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Menschen über 55 Jahre verkürzt. Zweck des Ganzen: Aktivierung – Menschen ohne Arbeit zügiger und wirksamer in die Erwerbstätigkeit zurückzubringen. Die Lohnnebenkosten wollte die Regierung außerdem gesenkt sehen, der Arbeitsmarkt sollte allgemein flexibler werden.

Was hat die Agenda 2010 eindeutig messbar bewirkt?

Seit Schröders Reformen haben sich verschiedene Veränderungen in Arbeitsmarkt und Wirtschaft ergeben: Die deutsche Wirtschaft ist leistungsfähiger geworden und hat sich in Sachen Beschäftigung, Exportstärke und Staatsverschuldung etwa besser entwickelt als die des vergleichbaren Auslands. Allerdings seien die positiven Entwicklungen der letzten Jahre nicht klar der Agenda 2010 anzurechnen und mehr eine Folge aus einer Mischung anderer Faktoren und Dynamiken wie der Weltwirtschaftskrise. So sind die Arbeitslosenzahlen in den letzten zehn Jahren zwar gesunken; allerdings wurde die Zählweise derjenigen, die als arbeitslos gerechnet werden, immer wieder geändert. Zum Beispiel fallen diejenigen heraus, die in ein Übergangsangebot gesteckt werden und einen EDV-Kurs absolvieren, obwohl sie damit noch immer fern eines dauerhaften Beschäftigungsverhältnisses sind. Dass die Arbeitslosigkeit in der Rezession 2009 nicht weiter angestiegen ist, schreiben Fachkreise außerdem eher der dieser Zeit verstärkt verbreiteten Kurzarbeit zu als den Reformen: 2009 wurden nur mehr 56 Milliarden Arbeitsstunden geleistet (gegenüber 58 Milliarden im Vorjahr), das bedeutet einen Einbruch um 2,7 Prozent. Vermehrte Beschäftigung dank der Agenda 2010? So klar ist dieses Fazit offenbar nicht zu ziehen.

Was bedeuten die Reformen heute im Alltag der Bürger?

Kritik zielt unter anderem auf die deutlich gestiegene Einkommensungleichheit ab. Durch die Kürzung der staatlichen finanziellen Hilfe ziehen kürzlich arbeitslos Gewordene auch unliebsame Arbeit eher und schneller in Betracht, um der Armut und dem sozialen Abstieg zu entgehen. Arbeitskraft sollte so mobilisiert werden. Was einerseits als „flexibler Arbeitsmarkt“ gelobt wird, bedeutet für den Arbeitsuchenden andererseits Niedriglöhne, Aushilfs- und Minijobs in prekären, unsicheren Arbeitsverhältnissen mit stärkerem Anteil an Zeitarbeit und ohne Tarifbindung. Gerade diejenigen, die in jahrelanger Erwerbstätigkeit ihre Arbeitsfähigkeit und ihren Willen dazu bezeugt haben, können auf keine staatliche Hilfe hoffen, ohne vorher Ersparnisse und Rücklagen aufzubrauchen. Sie sind seit den Reformen dazu gezwungen, ungeachtet ihrer vielleicht hochqualifizierten Ausbildung in den Niedriglohnbereich einzusteigen, schlechte Beschäftigungsverhältnisse mit langen Arbeitszeiten und kurzfristiger Austauschbarkeit in Kauf zu nehmen, um dem sozialen Abstieg zu entgehen. Deshalb werden der ausgeweitete Niedriglohnsektor und die vermehrt ungleiche Einkommensverteilung den Reformen als Effekte zugeschrieben.

Sonst knallt's - Matthias Weik und Marc Friedrich im Interview mit UNI.DE

Häufige Kritik: zu viele Verlierer, zu viel Ungerechtigkeit

Der staatliche Umgang mit dieser Not wird oft angeprangert: Dem, der jahre- oder jahrzehntelang gearbeitet hat, Leistung erbracht und privat gespart hat, wird im Falle überraschender Arbeitslosigkeit die finanzielle Unterstützung verwehrt. Folgen davon sind wachsende Unsicherheit und Angst bei Betroffenen und potentiell Betroffenen, das Gefühl, im Stich gelassen zu werden und Opfer eines ungerechten Systems zu sein. Gerade die Punkte Verteilungsgerechtigkeit und Sicherheit sehen viele also durch die Reformen demontiert. Auf dem Arbeitsmarkt herrscht deshalb vor allem großer Druck auf Arbeitnehmende: Gut Qualifizierte werden „hoppla hopp“ in schlecht bezahlte Jobs gezwungen, um ihrer Misere zu entgehen, für schlecht Qualifizierte bleiben dann die noch schlechter bezahlten. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen hat sich bei all dem allerdings nicht groß verändert.

Bei einer neuerlichen Wirtschaftsschwäche würden die Negativeffekte außerdem wieder verstärkt werden: Noch niedrigere Löhne, noch schlechtere Bedingungen, noch weniger Sicherheiten für den Arbeitnehmer wären die Folge. Dieser Lohnabwärtsspirale sollte mit dem 2015 eingeführten Mindestlohn entgegen gearbeitet werden. Teils wird dies als mangelnde Geradlinigkeit kritisiert; jedoch wurden an dieser Stelle Fehler erkannt, eingeräumt und nachjustiert. Weitere Ansatzpunkte sind die konsequentere Befähigung von Arbeitslosen für eine Rückkehr ins Arbeitsleben in ihrer Qualifikation entsprechenden Bereichen; ebenso kann eine stärkere Unterstützung von Tätigkeitswechseln und damit verbunden Aus- bzw. Aufstieg aus den prekären Jobs, über die eingestiegen wurde, forciert werden oder der Ausbau flexibler Arbeitsangebote mit gleichzeitigem Abbau geringfügiger Stellen, die bislang oft Frauen mit Kind besetzen.