von Marie-Thérèse | 10.01.2015 15:12

Dr. Who? Promovieren in England

Wer sich für ein Promotionsstudium in England entscheidet, muss sich auf einige Überraschungen gefasst machen, denn nicht nur das Studentenleben, sondern auch die universitären Strukturen und das akademische Miteinander sind auf der Insel anders als in Deutschland. Wer jedoch anfängliche Schwierigkeiten und typische Missverständnisse mit Humor zu nehmen weiß, wird kulturell, fachlich und persönlich reich belohnt.

Als ich mich für ein Promotionsstudium in England entschied, hatte das mehrere Gründe. Zum einen wollte ich gern meine erste größere wissenschaftliche Arbeit auf Englisch schreiben, um mir damit einen größeren Leserkreis zu erschließen und die internationalen Fachkollegen zur erreichen. Zum anderen kannte ich England aus meiner Kindheit recht gut, war durch das Anglistik-Studium und englische Freunde mit der britischen Lebensart und dem berühmten englischen Humor vertraut. Und last but not least wollte ich nach einem relativ schwerfälligen Studium mit der typisch geisteswissenschaftlichen Diskussionskultur an deutschen Universitäten den Sprung auf die Insel wagen, um meinen Geist zu erfrischen und dem oft wenig inspirierenden Seminarleben hierzulande zu entfliehen.

Kuriose Missverständnisse

Wie wenig wusste ich damals, welch kuriosen Missverständnissen ich trotz meiner Vorkenntnisse der englischen Mentalität begegnen sollte! Ganz unerträglich ist es den Briten z.B. – und das konnte ich als Kind und als Privatperson weniger herausfinden als dann im akademischen Berufsleben – wenn jemand zu viel weiß. Das mag seltsam klingen und auch ich hatte unsere englischen Freunde und Bekannten immer als spritzige, witzige und geistreiche Gesprächspartner erlebt, die zum Teil über enzyklopädisches Wissen zu den abgelegensten Themen und Fachgebieten verfügen. Das Problem, das mir dann im Promotionsstudium klar wurde: Die Briten häufen ihr Wissen gern unsortiert und hobbymäßig an, die Deutschen hingegen sind aufgrund ihrer akademischen Ausbildung und von ihrer Mentalität her für Systematik und Gründlichkeit bekannt – zwei Tugenden, die in England als absolut unenglisch, ja „unsportlich“ gelten. Und da kommt ein weiteres Missverständnis ins Spiel: die Deutschen denken, besonders wenn sie jung und hoffnungsfroh sind und eine Karriere an der Universität anstreben, dass man seine Kompetenz zeigt, indem man seine Sache ernst, detail- und kenntnisreich vorträgt. Nichts verabscheuen die Engländer mehr! Wenn man bei einem akademischen Vortrag nicht spätestens im dritten Satz einen kleinen Witz einbaut – am besten gepaart mit Selbstironie und der Demonstration der Unwichtigkeit der eigenen Person und Sache – wenn man diese lockere Art des Vortrags nicht beherrscht, wird man sich in England und Amerika nur wenige Freunde und ganz sicher keine akademische Karriere machen können.

Über die Bologna-Reform

Ernst oder lustig?

Die Gründe hierfür sind vielfältig, aber der Hauptgrund liegt in unterschiedlichen Erwartungen an einen Vortrag: Briten und Amerikaner gehen davon aus, dass man kompetent und fachkundig ist, es also nicht auch noch demonstrieren muss, deutsche Wissenschaftler hingegen sehen Fachvorträge als standesgemäße Formate, in denen man seine Kompetenz vor einem kritischen Publikum unter Beweis zu stellen hat. Von einem Vortrag, auch einem wissenschaftlichen Vortrag, erwartet man in der anglophonen Welt in erster Linie Unterhaltung, ein paar Witze für andere Gelegenheiten und neue Blickwinkel auf bekannte Tatsachen. Der deutsche Wissenschaftler hingegen tritt an, neue Ergebnisse zu präsentieren – eine unernste Haltung zum Gegenstand scheint ihm unreif und unangemessen, ja geradezu verdächtig. Aus diesem Gegensatz von gepflegtem Hobby und Berufsbeamtentum ergeben sich nicht nur unterschiedliche Erwartungen an die Person, sondern auch unterschiedliche Formen von Humor und Ernsthaftigkeit.

Vom Umgang mit Geschichte

Ein Missverständnis, das mich in diesem Zusammenhang persönlich am meisten erschüttert hat, war die Begegnung mit jungen Menschen meines Alters, die, nachdem ich ihnen als deutsche Doktorandin vorgestellt worden war, nicht nur mit der üblichen Prise Spott in Augen- und Mundwinkeln reagierten, sondern sogleich mit Stechschritt und Hitlergruß durch das ansonsten recht zivilisiert wirkende Kaminzimmer marschierten. Die mich so begrüßenden waren im Übrigen angehende Deutsch- und Musiklehrer, die auf meine anschließende Sprachlosigkeit mit lautem Lachen reagierten. Ich nehme an, dass es sich hier um ein tief liegendes Missverständnis handelt, denn auf beiden Seiten des Ärmelkanals hält man das Dritte Reich für beendet und weiß um seine Gräuel und Schrecken, aber man geht eben jeweils anderes mit dem historischen Erbe um. Eine gewisse Besessenheit der Briten mit den beiden Weltkriegen wird für viele Deutsche gewöhnungsbedürftig sein. Wenn man dann aber auch erfährt, wie unglaublich herzlich, witzig, unkompliziert und unternehmungslustig die Engländer sind, wird ihnen diese Besonderheit nachsehen.

Dr. Who? Formales und Freizeit

Zum Titel des „Doctor of Philosophy“ (Ph.D.) ist zu sagen, dass er seit dem Bologna-Prozess dem deutschen Doktortitel formal gleichgestellt ist und auch als Dr.-Titel dem Namen vorangestellt werden kann. Anders als der deutsche Dr.-Titel darf der in Großbritannien erworbene Titel allerdings nach bestandener mündlicher Prüfung geführt werden – eine Publikation der Arbeit ist zwar der universitären Karriere förderlich, wird aber nicht erwartet und erfolgt in manchen Fällen erst viele Jahre später. Wie der klassische deutsche Dr.-Titel dient jedoch auch der Ph.D. als Nachweis der Fähigkeit zu eigenständigem wissenschaftlichen Arbeiten durch eine originäre Forschungsleistung. Nach Einreichen der schriftliche Abhandlung dieser Forschungsarbeit (der Ph.D. thesis) folgt die mündliche Verteidigung vor einem Prüfer der Universität, an der man den Ph.D. erwerben möchte und einem Fachexperten einer anderen Universität. Diese mündliche Prüfung, genannt “viva” (kurz für “viva voce”), kann bis zu vier Stunden dauern und ist darum auch recht gefürchtet. Hier lohnt es sich, entsprechende Vorbereitungsveranstaltungen zu besuchen, in denen gute Tipps zu Ablauf und tyischen Fallen der Prüfung gegeben werden. Das ist ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen dem Promovieren in England und in Deutschland: Auf der Insel wird man über die gesamte Dauer des Promotionsstudiums eng betreut. Konkret bedeutet das, dass mindestens einmal pro Monat, meist jedoch einmal pro Woche bis alle 14 Tage, ein längeres Gespräch mit dem Betreuer der Arbeit stattfindet, bei dem man aktuelle Fortschritte und Ideen präsentieren und etwaige Schwierigkeiten benennen und begründen muss. Das ist nicht nur eine gute Vorbereitung auf das spätere Berufsleben, es schützt auch vor bösen Überraschungen nach jahrelangem eigenbrötlerischem Grübeln, motiviert zum Weitermachen und führt einem immer wieder die Glücksmomente und Tücken des eigenen Tuns vor Augen. Und weil das recht anstrengend sein kann, wird unter englischen Doktoranden auch viel für Ausgleich gesorgt und gefeiert. Großen Wert legt man darauf, dass der Mensch, der da vor sich hin werkelt, nicht zu verkopft werden möge, weshalb man als Doktorand, nicht nur weil man als interessanter Gesprächspartner gilt, oft und gern zu Wanderungen, Segelturns, Cricket-Turnieren, Tagesausflügen und Gartenpartys eingeladen wird. Und so hält sich bis heute das Gerücht, Ph.D. stünde in Wahrheit für “Pour Him/Her a Drink”.

Stipendien und Finanzierungsmöglichkeiten für Geisteswissenschaftler in England:
www.daad.de
www.ghil.ac.uk
www.ahrc.ac.uk
www.britac.ac.uk