Ich selbst lebte für ein Jahr während eines Erasmus-Aufenthalts in Marseille. Da das Studium, vollends durch den Fleischwolf von Bologna gedreht wurde, hatte ich wenig Freude daran und konzentrierte mich somit umso mehr auf Stadt und Menschen. Ich versuchte meine anfänglich von Stereotypen geprägten Denkmuster zu schärfen, wobei ich mich selbst immer wieder dabei ertappen musste, wie ich Ereignisse, Menschen oder wilde Assoziationen und Projektionen aus der muffligen Schublade des Südens, genauer des Marseiller Südens, holte. Dies besserte sich, wie ich sehr hoffe, mit der Zeit.
Dem medial geförderten, düsteren Bild dieser Stadt sollte man möglichst schnell mit einer gewissen Ratio begegnen. Marseille wird gerne auf eine Stadt der Drogenkartelle reduziert. Ja, es ist wahr, dass Marseille, wie andere Städte auch, Hafenstädte im Besonderen, ein Umschlagplatz für Illegalitäten aller Art ist. Diese „Geschäfte“ finden allerdings primär in den Banlieues statt, also der Peripherie der Stadt, und der Rest der Stadt bleibt, abgesehen von vor allem Beschaffungskriminalität, davon weitestgehend unbehelligt. Was Marseille wohl in Sachen Drogenhandel massiv von vielen anderen Städten unterscheidet, ist, dass Konflikte offener ausgetragen werden, wohingegen in blitzeblitzeblanken Städten wie München das alles etwas diskreter abläuft.
Der Süden in uns! Ja, man kann ihn dort tatsächlich finden und leben: Aperos trinken, das Mittelmeer ist vor der Haustür, samt einem, auch für von Alpen verwöhnte Menschen, pittoresken Gebirge, namens Calanques, die sich teils gekonnt am Meer entlang schlängeln und zum Wandern und Klettern einladen. Auch, um einem beliebten Aspekt, der nicht zuletzt eifrig durch Reiseführer befeuert wird, gerecht zu werden, sei das Wechselspiel aus Okzident und Orient erwähnt. Seinen Höhepunkt erreicht dies vermutlich in dem Stadtteil Noailles, der einen immer wieder von neuem gefühlt in eine andere Welt zaubert. Weniger wegen des „exotischen“ Flairs, das einen weit entfernt an Basare in Marrakesch erinnern mag, als vielmehr auf Grund des krassen Kontrastes, der sich zwischen den Stadtvierteln abspielt. Befindet man sich gerade noch im faden und steril gebändigten Hafenviertel ist man schon ein paar Häuserzeilen weiter in Noailles. Dort duftet es nach Kräutern, Fisch, Fleisch, Gemüse und je nach Hitze, Tageszeit und persönlicher Stimmungslage auch nach Verwesung.
Eigentlich gehört dieser Teil der Stadt dem Unesco-Kulturerbe unterstellt, was aber vielen Investoren zuwider liefe. Auch dieser Ort fällt, zumindest bemüht sich die konservative Stadtregierung darum, peu à peu einer Gentrifizierung zum Opfer. Fast schon abgedroschen in seinem Ablauf, soll dort ein viel-Sterne Hotel gebaut werden, dem die geheime Seele der Stadt weichen müsste. Dass die Börse nur ein paar Hundert Meter von Noailles entfernt ist, sei nur en passant erwähnt.
Ein weit verbreitetes Paradox wird durch den Tourismus, wie auch Leuten, wie mir, die auf Zeit in dieser Stadt leben, generiert. Man hat Interesse daran, dass alles dort so bleibt wie es ist, aber durch die eigene bloße Präsenz ist das unmöglich. Dort wo einst die „Einheimischen“ eingekauft haben, kommt plötzlich frisches Geld und die Läden versuchen den Ansprüchen der neuen Klientel, die aber oftmals gar keine Ansprüche hat, außer dass alles so bleibt wie´s ist, gerecht zu werden. Dann schaltet sich auch wiederum die Stadt ein und versucht Youngsters, die unter der Hand Kippen oder ein bisserl Gras verticken von den Straßen dieses Stadtviertels zu vertreiben. Ähnliche Muster ließen sich auch gut am Berliner Stadtteil Neukölln beobachten. Ohne dass man es merkt oder gar intendiert, wird man selbst zum Katalysator für Gentrifizierung.
Genug des Kulturpessimismus: Es lässt sich vielleicht sagen, dass die Menschen in Marseille wie in vielen südlicher gelegenen Städte entschleunigter und im zwischenmenschlichen Umgang unkomplizierter leben. Dieser Eindruck drängt sich vor allem dann auf, wenn man aus einer überregulierten Stadt wie München kommt. Niemanden interessiert es in Marseille, wenn man, selbst unter den Augen von Fahrrad-Polizisten über Rot auf der falschen Seite mit seinem Fahrrad fährt. Auch wird einen Barbesitzer niemand vom Ordnungsamt behelligen, wenn er seine Tische nicht exakt auf dem vom Amt vorgesehen Platz am Bürgersteig stehen hat. Das sind zwar eher Banalitäten, aber häufen sie sich, so gibt es, wenn man in der Stadt unterwegs ist, ein anderes, zumindest etwas freieres Grundgefühl. Soweit man überhaupt von Freiheit innerhalb einer Stadt sprechen kann. Diese gefühlte Freiheit kann natürlich auch schnell wieder relativiert werden, weil man immerzu achtsam sein muss, dass man nicht von einem leidenschaftlichen Rollerfahrer über den Haufen gefahren wird oder man doch einen Tick wachsamer sein sollte, wann und wo man seine Kamera auspackt. Wie man in der Schweiz sagen würde, „man kann nicht den Fünfer und das Weggli haben“. Dies ist vielleicht auch eine meiner Haupterkenntnisse aus meiner Zeit in Marseille.