VON CLEMENS POKORNY
|
09.07.2014 17:30
Mensch und Auto: Verkehr-te Welt?
Verkehr erzeugt Aggressionen und Unfälle – vor allem, wenn er auf der Straße stattfindet. Doch wir ergreifen oft die falschen Maßnahmen dagegen, ebenso der Staat, der empirische Erkenntnisse seit Mitte der 1980er-Jahre noch immer nicht umsetzt. So macht der konventionelle Verkehr Autofahren zur Stressquelle. Über die Psychologie des Autofahrens und innovative Lösungen für einen kommunikativeren Verkehrsfluss, der die Bedürfnisse der Menschen berücksichtigt
Montag Morgen auf der Ausfallstraße einer Großstadt: In Richtung Innenstadt verengt sich die Fahrbahn, aus drei Fahrstreifen werden zwei. Sarah verlässt die endende Spur frühzeitig, Tim hinter ihr gibt Gas und fädelt in letzter Sekunde auf den benachbarten Streifen ein. Wer macht's besser, die „sich unterordnende“ Frau oder der „egoistische“ Mann?
Tom Vanderbilt hat sich diese Frage schon vor einigen Jahren gestellt. Der US-amerikanische Journalist ärgerte sich über den morgendlichen Stau in New Jersey und nahm das zum Anlass für Recherchen zur Psychologie des Verkehrs. Warum passieren die meisten Unfälle bei herrlichem Wetter und auf Strecken, die die beteiligten Fahrer gut kennen und die reichlich mit warnenden Schildern ausgestattet sind? Soll ich als Fußgänger an einer roten Ampel stehenbleiben, obwohl weit und breit weder herannahende Fahrzeuge noch Kinder zu sehen sind, denen ich ein schlechtes Vorbild sein könnte? Und wie gefährlich ist eigentlich die Autobahn?
Generelles Tempolimit auf Autobahnen – ein empfindliches Thema
Staus sollen so vermieden, der CO2-Ausstoß reduziert werden. Welche Folgen hätte eine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung?
[...]»
Einige Ergebnisse seiner Recherchen, die er in dem 2009 erschienenen Buch „Auto. Warum wir fahren, wie wir fahren und was das über uns sagt“ zusammengefasst hat, überraschen. Häufig beruft er sich auf die Ideen des niederländischen Verkehrsingenieurs Hans Monderman. Dieser probierte 1985 im Dorf Oudehaske ein Konzept aus, das mit allen damals geltenden Regeln brach: Straßen wurden zugunsten breiter Bürgersteige verengt, Kreuzungen in Kreisverkehre umgewandelt, Schilder ab- und optische Attraktionen am Straßenrand aufgebaut. Folge:
Die Zahl der Unfälle sank um 90%. „
Unsicher ist sicher“, erklärte Monderman sein Konzept, das später auch in einigen anderen Orten rund um Groningen angewandt und weiterentwickelt wurde. Denn je sicherer wir uns auf einer Straße fühlen – weil sie breit ist, weil wir sie kennen oder weil viele Schilder, Ampeln und sonstige Reglementierungen uns dazu bringen –, desto weniger aufmerksam fahren wir – und desto mehr Unfälle passieren. Dementsprechend gefährdet übrigens telefonieren am Steuer die Verkehrssicherheit enorm – und mit zunehmender Gesprächsdauer steigt die Gefahr
exponentiell. In Verkehrsräumen, die nach Mondermans Forschungen eingerichtet wurden, findet dagegen ein Miteinander aller Verkehrsteilnehmer statt, weil die staatlichen Vorgaben auf ein Minimum reduziert sind (
Tempolimit 30 km/h, Rechts vor Links) und daher jeder mit jedem per Handzeichen und Blickkontakt kommunizieren muss, um diesen „
Shared Space“ ohne Bordsteine und Verkehrszeichen nutzen zu können.
Der deutsche Reglementierungswahn auf der anderen Seite führt erfahrungsgemäß zu egoistischem und rechthaberischem Verhalten im Verkehr. Kein Wunder: Sobald wir schneller als 30 km/h fahren, finden wir die Blicke der Anderen nicht mehr. Mit Monderman formuliert konfligieren im konventionellen Verkehr die unpersönliche, auf Effizienz ausgerichtete Welt des Verkehrs selbst mit der des auf wechselseitige Rücksicht angewiesenen sozialen Wesens Mensch. Das führt zu Frust und Aggressionen, wie auch die in Deutschland zur Verlangsamung der Autos gerne eingesetzten Blumenkübel oder Poller mitten auf der Straße. Im Shared Space ist das ebenso anders wie auf der
Autobahn, wo Konflikte zwischen sozialer und Verkehrswelt kaum stattfinden, weil wir nur selten Rücksichten aufeinander nehmen müssen.
Wenn in Deutschland daher ein zügiger und sicherer Verkehrsfluss gewährleistet werden sollte, müssten nach derzeitigem Stand der Forschung viel mehr die Psyche und die Bedürfnisse der Menschen zur Grundlage der Verkehrsgestaltung gemacht werden. Aber dazu müssten wir uns von einigen vermeintlich hehren Vorstellungen verabschieden. Die Stadt
Hanoi etwa zeigt, dass Menschen die Straße auch ohne Fußgängerampeln sicher überqueren können. Und von den eingangs erwähnten Autofahrern Sarah und Tim handelt letzterer eher im Interesse des Verkehrs: Wer den Fahrstreifen in letzter Sekunde wechselt,
nutzt den bestehenden Raum perfekt aus und sorgt so dafür, dass alle Verkehrsteilnehmer schneller vorankommen.