VON CLEMENS POKORNY | 15.07.2014 15:21

Shared Space: Entregelung des Verkehrs

In den meisten deutschen Städten haben die ohnehin schon stärksten Verkehrsteilnehmer Vorrang: die Autofahrer. Empirische Forschungen zeigen aber schon seit den 1980er-Jahren, dass diese Bevorzugung und die strikte Trennung der Wege für die verschiedenen Verkehrsteilnehmer nicht nur kontraproduktiv ist: Der nötige Schilderwald führt paradoxerweise auch zu mehr Unfällen. Das Konzept des „Shared Space“ könnte diesen Missständen abhelfen.

Eine Stadt ohne Bordsteine, Verkehrsschilder und Ampeln: Kann das funktionieren? Einige niederländische Gemeinden fahren im wahrsten Sinne des Wortes sehr gut damit. Das von einem holländischen Verkehrsingenieur entwickelte „Shared Space“-Konzept könnte langfristig auch in Deutschland Schule machen.

Dabei gibt es das typische städtische Straßenbild erst seit dem 20. Jahrhundert. Mit der „Charta von Athen“ schrieben Städteplaner und Architekten wie Le Corbusier schon 1933 ein Manifest der suburbanisierten Stadt. Darin wurde das Wohnen an die Ränder und in die Peripherie verlegt und dadurch eine Zunahme des Individualverkehrs begünstigt, weil Arbeitsplätze und Handel im vom Wohnraum weit entfernten Stadtzentrum konzentriert sein sollten. Unter dem Schlagwort „Autogerechte Stadt“ wurde ab den 1960er-Jahren zum städtebaulichen Dogma, dass die verschiedenen Fortbewegungsmittel strikt voneinander zu trennen und dem für die wirtschaftliche Entwicklung zentralen Autoverkehr absoluter Vorrang zu gewähren sei. Seitdem wurden alle schwächeren Verkehrsteilnehmer, wie Fußgänger und Radfahrer, im Konfliktfall z.B. in Unterführungen dem motorisierten Verkehr buchstäblich untergeordnet. Erst die Ölkrise und das zunehmende ökologische Bewusstsein bewirkten in den 1970er-Jahren den Beginn einer langsamen Trendwende. Zunächst beschränkte sich die Gegenbewegung auf kleine Maßnahmen wie den Verkehrsberuhigten Bereich.

Respektforschung

Doch in den 1980ern entwickelte der Holländer Hans Monderman den „Shared Space“. Der Stadtplaner hatte erkannt, dass mehr Beschilderungen an einer Straße paradoxerweise zu mehr Unfällen führten. Seine Vermutung: Die Überregulierung des Straßenverkehrs, v.a. der berüchtigte Schilderwald, führt zu einem zu passiven Verhalten der Autofahrer. Also baute Monderman im Ort Oudehaske Schilder, Bordsteine und Ampeln zugunsten von Bodenmarkierungen ab, verhängte ein Tempolimit von 30 km/h im ganzen Ort, verengte die Straßen und schaffte ablenkende Attraktionen am Straßenrand. Das Ergebnis: Die Autofahrer fühlten sich unsicher und wie auf einer kleinen Dorfstraße, und fuhren daher umso vorsichtiger und kommunikativer. In der Folge wurde „Shared Space“ auch in anderen Gemeinden im Königreich ausprobiert. Überall gelten dort seitdem nur drei Regeln: Tempo 30, Rechts vor Links und natürlich gegenseitige Rücksichtnahme aller Verkehrsteilnehmer. Überall gingen Unfälle und Aggressivität im Verkehr nahezu auf Null zurück. Überall kamen auch die Autofahrer schneller voran, weil sie nicht mehr von roten Ampeln in einen zeit- und spritfressenden Stop-and-Go-Modus gezwungen wurden. Überall verfestigte die Entschleunigung des Verkehrs den sozialen Zusammenhalt der Einwohner und förderte überdies den Umsatz des Einzelhandels vor Ort.

So profitieren alle von Shared Space: Der öffentliche Raum wird aufgewertet, alle Verkehrsteilnehmer sind gleichberechtigt und werden als verantwortungsbewusste Menschen behandelt. Lärm- und Abgasbelästigungen nehmen spürbar ab. Tempo 30 ist nötig, weil der für das Konzept nötige Blickkontakt bei höheren Geschwindigkeiten nicht gehalten werden kann. Sehbehinderte werden allerdings nicht benachteiligt, solange taktile Blindenleitsysteme vorhanden sind.

Der Shared Space wäre, insgesamt betrachtet, eine geeignete Maßnahme zur Flankierung von Reurbanisierungstendenzen, wie sie etwa in vielen Städten Westfalens schon zu beobachten sind. Bisher wurde das Verkehrskonzept in Deutschland allerdings nur in einem Ort (Bohmte in Niedersachsen) umgesetzt. Natürlich lassen sich nicht ganze Großstädte in Shared-Space-Zonen verwandeln, und selbst dort, wo sich das Konzept prinzipiell umsetzen lässt, kann nicht immer auf sämtliche Schilder verzichtet werden. Doch in den meisten deutschen Städten und Dörfern wäre es wohl ein Schritt in die richtige Richtung, die Umsetzbarkeit von Shared Space wenigstens zu prüfen – die Politik zögert leider bisher.