VON LISI WASMER
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21.07.2014 14:50
Kostenloser Nahverkehr – Geld sparen, indem man darauf verzichtet?
Es ist noch kein Jahr her, da führte der Münchner Verkehrsverbund (MVV) gemeinsam mit örtlichen Hochschulen ein Semesterticket ein und folgte somit dem Beispiel zahlreicher anderer Universitätsstädte in Deutschland: Für knapp 150 Euro können Studenten sechs Monate lang rund um die Uhr das Gesamtnetz des Öffentlichen Personen-Nahverkehrs nutzen, ohne einen Gedanken Streifenkarten oder Tarifzonen. So ähnlich wünschen sich das viele auch für den bundesweiten ÖPNV, nur extremer: U- und S-Bahn, Bus und Tram sollen fahrscheinfrei nutzbar sein, für alle Bürger, dauerhaft. Ob und wie das funktionieren kann.
Im Grunde klingt es paradox: Indem auf die Einnahmen aus Ticketverkäufen verzichtet wird, sollen Eurobeträge in Milliardenhöhe eingespart werden. Tatsächlich verstecken sich überall Einsparpotentiale, angefangen bei den wegfallenden Kosten für den Fahrkartendruck, über die Gehaltseinsparungen der Kontrolleure bis hin zum Kapital, das im Straßenbau gespart werden könnte, würden mehr Menschen den ÖPNV ihrem Privatwagen vorziehen.
Motorisierter Individualverkehr (MIV), so wird der „private“ PKW- und Motorradverkehr im Gegensatz zum Güterverkehr oder ÖPNV bezeichnet. Und er ist es auch, bei dem die gängigen Modelle für innovative Lösungen zur Verminderung des Verkehrsaufkommens ansetzen. Die Grundidee ist denkbar einfach: Wird die Nutzung des ÖPNV für alle Bundesbürger kostenlos, verzichten mehr Menschen auf eine Fahrt im eigenen Wagen. Die Straßen werden entlastet, die Umwelt sowieso und natürlich auch der Geldbeutel der Fahrgäste. Der Nachteil: Das Kapital, das bisher aus den Fahrpreisen gewonnen werden konnte, muss an anderer Stelle beschafft werden, eine Querfinanzierung wird notwendig. Aber wer soll das bezahlen?
Was allen gehört, wird von keinem geschützt
Wer trägt die Verantwortung für Allgemeingüter? Und wie kann diese Verantwortung eingefordert werden?
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Schwarzfahren im großen Stil
Die Antwort lautet: Die Kommunen. Denn der ÖPNV zählt zu den sogenannten „Pflichtaufgaben der Selbstverwaltung“ der Gemeinden, für die sie laut
Grundgesetz auch die finanzielle Verantwortung übernehmen müssen. Während zahlreichen Bürgermeistern bei dem Gedanken sicher schon der Angstschweiß auf die Stirn tritt, zeigen jeweils mehr oder weniger erfolgreiche nationale und internationale Beispiele die Möglichkeiten und Grenzen des kostenlosen ÖPNV auf.
Das wohl bekannteste Exempel liefert die belgische Stadt Hasselt, die 1997 die „Transportrevolution“ durchsetze, wie es Elisabeth Wehrmann in einem damaligen
„Zeit“-Artikel nannte: Anstelle eines dritten Umgehungsrings für die flämische Stadt wurde ein anderer Ausweg aus dem immer drastischer ansteigenden MIV-Aufkommen gesucht. So wurde der kostenlose Nahverkehr eingeführt - eine knapp 970.000 Euro teure Maßnahme, für die sich allem Anschein nach jeder Cent lohnte, wie allein die Fahrgaststatistik zeigt: Bis 2006 stieg die Anzahl der Mitreisenden von anfangs 360.000 beförderten Personen pro Jahr um über 1.300 Prozent auf mehr als 4,6 Millionen Fahrgäste an, wie der Verkehrswirtschafts-Student Martin Randelhoff auf seinem mit dem Grimme Online Award ausgezeichneten Informationsblog „
Zukunft Mobilität“ festhält.
In Deutschland waren es Ende der 1990er Jahre die brandenburgischen Städte Lübben und Templin, die ihre Buslinien erstmals zum Nulltarif fahren ließen. „Unsere vier Buslinien waren früher kaum belegt und fuhren uns nur Defizite ein“, zitiert Jörg Weber in einem
Artikel für die damalige Ausgabe des Greenpeace-Magazins die Templiner Tourismusbeauftragte. Die Kosten für die Umstellung konnten durch eine erhöhte Kurtaxe, Sponsorengelder und Werbeeinnahmen gedeckt werden, der Autoverkehr ging zurück. Für Lübben ging es außerdem um das Erlangen des Status als „Erholungsort“, für die im Jahr 100.000 Touristen umweltfreundlich transportiert werden müssen.
Gestern und heute. Was bleibt, ist Tallinn
Was ist geblieben vom kostenlosen ÖPNV? Die Bilanz ist ein wenig entmutigend. Weder Templin noch Lübben konnten sich die entgeltlose Personenbeförderung dauerhaft leisten. Und auch Hasselt, das Aushängeschild der „Transportrevolution“ erhebt seit 2013 wieder
Fahrpreise, wenn auch verhältnismäßig niedrige. Den Ausschlag gaben in allen drei Städten die gestiegenen Preise zur Bereitstellung des Angebots (mit zunehmenden Fahrgastzahlen wird auch ein Netzausbau notwendig, die Aufrüstung der Fahrzeugflotte und die Verdichtung der Taktzeiten).
Dafür wagt neuerdings die estnische Hauptstadt Tallinn den Versuch Nahverkehr zum Nulltarif. Nach einer Bürgerbefragung im Frühjahr 2012 setzte der Bürgermeister zu Jahresbeginn 2013 den fahrscheinfreien Nahverkehr in die Realität um – scheinbar mit großem Erfolg, wie in der „Wirtschaftswoche“ im Januar 2014
Bilanz gezogen wurde: „[...] die gewollten Entwicklungen – weniger Autoverkehr, mehr ÖPNV-Nutzer, mehr Teilhabe von finanziell schlechter gestellten Bewohnern und einen Zuzug in die Innenstadt – treten laut ersten Untersuchungen zumindest teilweise schon ein.“ Touristen zahlen in Tallinn übrigens nach wie vor ein Beförderungsentgelt. Trotzdem warnen Kritiker weiterhin vor Finanzierungsschwierigkeiten.
Nulltarif, und dann?
Grenzen und Möglichkeiten des ÖPNV zum Nulltarif zeigt eine ausführliche
Analyse des Verkehrsclubs Deutschland aus dem Jahr 2012 auf. Auch Martin Randelhoff beschäftigt sich auf seinem
Blog „Zukunft Mobilität“ mit den Erfolgsfaktoren des kostenlosen Nahverkehrs. Für realistisch hält er eine Umsetzung in kleinen bis mittelgroßen Städten mit einer geringen Auslastung des ÖPNV, was zugleich einem geringen Kostendeckungsgrad durch den Fahrkartenverkauf entspricht. Der sprunghaften Steigerung der Fahrgastzahlen muss schnell und flexibel begegnet werden können, anders gesagt braucht die betreffende Kommune ein ausreichendes Finanzpolster, um steigende Kosten zu decken.
Natürlich kann auch über Gegenfinanzierungsmaßnahmen nachgedacht werden. Eine Möglichkeit wäre etwa in Anlehnung an das Semesterticket das Einfordern eines grundlegenden Beförderungsbeitrags, den alle Einwohner zahlen müssen. Die Fahrtkosten würden sich somit auf mehr Schultern verteilen und dadurch insgesamt für den Einzelnen günstiger ausfallen.
Ebenso klar ist, dass allein durch den Verzicht auf ein Beförderungsentgelt die hehren Ziele der Visionäre hinsichtlich des MIV-Aufkommens und der ökologischen Komponente nicht erreicht werden können. Wie Martin Randelhoff festhält, lockt der kostenlose Nahverkehr nicht nur Personen an, die sonst mit dem Auto reisen würden. Die steigende Fahrgastzahl rührt maßgeblich auch von Leuten her, die andernfalls das Fahrrad nutzen oder zu Fuß gehen würden. Um dem wachsenden MIV tatsächlich Herr zu werden, muss die Vergünstigung des ÖPNV von zusätzlichen Maßnahmen flankiert werden, welche die Benutzung von PKW und Motorrädern unattraktiv machen, wie beispielsweise eine Verknappung der Parkmöglichkeiten im Stadtgebiet oder eine Erhöhung von Parkgebühren.
Manon Brandt vom Institut für Verkehr und Stadtbauwesen der Technischen Universität Braunschweig hatte schon 2003 den Blick für das große Ganze: „Für die Zukunft reicht es jedoch nicht aus, den Verkehr zu verlagern“, schreibt er
zusammenfassend und meint damit die Umschichtung des Verkehrs vom MIV in den ÖPNV durch ein kostenfreies oder zumindest fahrscheinfreies Angebot. Stattdessen mahnt er eine Änderung der Raum- und Siedlungsstruktur an. Ob er damit die bereits angesprochenen flankierenden Maßnahmen zur Kostenbefreiung des ÖPNV oder aber eine Reduzierung der Pendlerzahlen und damit des Verkehrsaufkommens zu Spitzenzeiten meint, bleibt unklar. Beides dürften langfristig legitime Maßnahmen gegen den übermächtigen MIV darstellen.