VON MAXIMILIAN REICHLIN | 17.11.2015 15:17

Demokratie im Fluss – Liquid Democracy und ihre Möglichkeiten und Grenzen

Liquid Democracy. Was ist das? Ein von Politikern erfundener Sportdrink? Ein Parfum, das die politischen Gehirnzellen anregt? Das wäre super, hat mit dem Begriff aber absolut nichts zu tun. Flüssige Demokratie ist nicht das demokratische System in flüssiger Form, sondern soll vielmehr Fluss in dasselbe bringen. Sie vereint die Vorteile der beiden geläufigen Formen von Demokratie: Der Repräsentativen oder Parlamentarischen Demokratie, wie sie zum Beispiel in Deutschland Anwendung findet, sowie der Direkten Demokratie, die es etwa in der Schweiz gibt.


Gleichzeitig sollen die Nachteile beider Formen gezielt ausgeschaltet werden: Während in der Parlamentarischen Demokratie der Bevölkerung nur in bestimmten Abständen (bei uns sind es vier Jahre) seine politische Entscheidungskraft einsetzt und mit der Wahl von Abgeordneten diese quasi „outsourct“, wird sie in der Direkten Demokratie für viele kleine Entscheidung erneut zur Urne getrieben. Das ist der Grund dafür, dass in Deutschland das Volk während der laufenden Legislaturperiode kein Mitspracherecht hat und in der Schweiz politische Entscheidungen oft recht lange auf sich warten lassen – so lange nämlich, bis wirklich jeder darüber abgestimmt hat.

Liquid Democracy soll das ändern: Hier sollen Bürgerinnen und Bürger in jeder Situation entscheiden, ob sie ihre Stimme selbst einsetzen wollen, oder ob sie diese lieber an jemanden delegieren. Diese Person kann jeder sein. Ein Freund, eine Freundin, ein Unternehmen, eine Initiative oder eben politische Abgeordnete. Anders als in der Parlamentarischen Demokratie, in der jede Stimme nur einmal für eine einzige Person und damit für ihr ideologisches „Komplettpaket“ abgegeben werden kann, haben Bürgerinnen und Bürger in der Liquid Democracy die Möglichkeit, Stimmen auch zurückzuziehen oder neu zu delegieren – oder sie eben für sich selbst zu behalten.

Richtig Handeln, aber wie?

Flüssig ist dieses System deshalb, weil es sich zum Ziel gesetzt hat, starre und statische politische Vorgänge zu „verflüssigen“. Möglich machen sollen es Softwarelösungen, wie die Plattform „LiquidFeedback“, das in Deutschland von der Piratenpartei verwendet wird. Anstatt im Wahllokal wählt man in dieser Form der Demokratie also am heimischen Computer. Da stößt das System allerdings schon an seine Grenzen: Erstens ist es kaum möglich, eine Wahl per Internet abzuhalten, da eine solche Wahl leicht von Dritten manipuliert werden kann. Zweitens ist der Einsatz von Wahlcomputern in Deutschland nicht anerkannt.

Das Konzept Liquid Democracy findet daher aktuell noch keine Anwendung, zumindest nicht auf einer nationalen Ebene. Es ist also zur Zeit noch ein Gedankenexperiment. Die Software „LiquidFeedback“ wird daher ausschließlich an Parteien verkauft, die ihre internen Vorgänge damit optimieren wollen – es gibt noch keine Möglichkeit, Liquid Democracy tatsächlich durchzusetzen. Das sei, so ein Programmierer von „LiquidFeedback“ Andreas Nitsche, auch nur in einer Gesellschaft möglich, die sich bereits von Diskriminierung gelöst hat. Denn wenn jeder Mensch öffentlich über jedes Problem seine Meinung kundtun kann, geht das nur, wenn er dafür nicht angegriffen oder diskriminiert wird.

Möglich ist Liquid Democracy also aktuell höchstens im Kleinen, beispielsweise im Projekt „aula“ (kurz für: Ausdiskutieren und live abstimmen). Hier kommen die Prinzipien der Liquid Democracy in einem schulischen Umfeld zum Einsatz. Schülerinnen und Schüler ab der fünften Jahrgangsstufe sollen so aktiv ihre eigene Schule sowie die didaktischen Vorgänge mitgestalten – ganz im Sinne einer flüssigen Demokratie. Die Software wird dabei vom Verein Liquid Democracy e.V. zur Verfügung gestellt. Das Projekt soll im Januar 2016 in eine einjährige Testphase starten.