VON JASCHA SCHULZ | 22.05.2015 15:10

Dean Potter - Ein Leben über dem Abgrund

Für viele Menschen stand Extremsportler Dean Potter für den absoluten Willen zur Freiheit. Er galt als jemand, der seine Träume nicht nur träumte, sondern auch lebte. Ebenso zahlreich sind aber auch die Stimmen, die den Wingsuit-Flieger als verantwortungslosen Kopf einer gefahrbesessenen Szene betrachteten. Am Samstag, den 16. Mai 2015, starb Dean Potter bei einem seiner Sprünge. UNI.DE betrachtet die Kontroversen, die sich um den Athleten bildeten und hinterfragt die Motive, die hinter seinem unbändigen Drang zur Risikoerfahrung standen.



Dean Potter steht auf einem Felsvorsprung. Er befindet sich in schwindelerregender Höhe, ungesichert.
Ein Tanz über dem Abgrund.
Dann springt er. Und er fällt mit unfassbarer Geschwindigkeit nach unten. Doch es gibt keinen Aufprall. Stattdessen breitet Potter seinen Wingsuit aus und fängt an zu fliegen.
Er fliegt über die unendlich scheinenden Weiten der Felslandschaft, über Wald und Gestein. Er fliegt immer weiter, wechselt sogar die Richtung, erst nach links, dann wieder nach rechts. Und bei all dem verliert er kaum an Geschwindigkeit. Es sieht so aus, als trage ihn sein Wingsuit, wohin auch immer er möchte. Dann öffnet sich über einer grünen Ebene der Fallschirm. Langsam gleitet Dean Potter auf die Erde.

Die Videoaufnahme zeigt Dean Potters 2011 durchgeführten Flug vom Eiger in der Schweiz. Er ging mit einer Flugzeit von zwei Minuten und 50 Sekunden in die Geschichte ein. Bis heute ist es der längste Flug, der je mit einem Wingsuit gemacht wurde. Am Ende des Videos ist eine Nahaufnahme von Dean Potter zu sehen. Immer wieder zeigt er lächelnd auf seine zitternde Hand.

Sein letzter Sprung, am 16. Mai 2015, endete tödlich. Dean Potter und sein Kollege Graham Hunt sprangen von einem 2300 Meter hohen Felsen im Yosimete-Park. Ihr geplanter Flugweg führte durch eine enge Felsspalte, beide prallten gegen den Stein. Am Sonntag wurden die Leichen der beiden Extremsportler gefunden.

Nun fragen sich die Menschen, was so jemanden antreibt. Wie lässt sich ein derart risikoreiches Verhalten mit dem Überlebenstrieb des Menschen in Einklang bringen?
Bei Dean Potter wird schon längst mehr bemüht, als der allseits bekannte Adrenalin-Kick, um seine Motive zu ergründen. Es gibt da diesen Dean Potter Mythos. Hervorgerufen wurde dieser vom Extremsportler selbst. Als Kind habe er einmal einen Albtraum gehabt, in dem er fiel. In dem Traum war es ihm, als falle er in den Tod. Diese existenzielle Angsterfahrung sei der Auslöser für sein späteres Leben als Extremsportler gewesen. Zunächst kletterte Potter. Er kletterte überall hinauf, wie hoch und gefährlich der Berg auch sein mochte. Auf diese Weise wollte er seiner Angst ins Auge blicken. Zeigen, dass er die Höhe kontrollieren konnte. Und er konnte es. Doch er wollte mehr. Er wollte fliegen. Fliegen, um nicht zu fallen. Er kletterte immer höher, unternahm immer schwierigere Sprünge mit seinem Wingsuit, um die Angst des Falls in den Abgrund zu besiegen. Das ist Dean Potters eigener Mythos. Es ist der Mythos von der Stärke des menschlichen Willens, der die tief in der menschlichen Psyche verwurzelten Ängste überwinden und in etwas Positives umwandeln kann. Dean Potter erklärte sie zum Antrieb seines Lebens.

Dieser Antrieb machte auch vor Gesetzen nicht halt. Dean Potter galt als freiheitssüchtig, als Anarchist. Die Süddeutsche Zeitung schrieb kurz nach seinem Tod, es hätte für ihn nur die Grenzen gegeben, die er sich selbst setzte. Damit eckte er immer wieder an und kam mit dem Gesetz in Konflikt. Er kletterte auf instabile, als Heiligtum oder Nationaldenkmal geltende Felsen. Jahrelang bestieg er die Felswände des Yosemite Parks, obwohl das Klettern dort verboten ist. Nicht nur Tierschützer kritisierten ihn heftig, als er bei einigen Flügen seinen Hund in einem Rucksack auf seinen Rücken schnallte.
Für Dean Potter war die Natur ein Ort, an dem es keine Verbote mehr gab. Mit der Natur endete für ihn die Gesellschaft und alles war möglich. Für ihn waren Berge Naturschönheiten, die erklettert werden wollten. Warum man das verbieten sollte, war ihm unbegreiflich.

In der Szene ist Dean Potter ein Idol. Er erfand das Freebase, bei dem man ungesichert klettert. Stürzt man ab, gleitet man mithilfe eines Wingsuits und eines Fallschirms auf die Erde. Potter bekam mehrere Preise und kletterte Routen, die als unmöglich galten. Laut anderen Extremsportlern, verschob er die Grenzen des Machbaren. Einmal spannte er eine Slackline zwischen zwei Felsvorsprünge und spazierte bei Mondschein auf dem Seil hin und her.

Natürlich gibt es auch viele Menschen, die Dean Potter verantwortungslos nennen. Verantwortungslos, weil er auf einer öffentlichkeitswirksamen Plattform die Lust am Risiko zelebrierte. Weil er als Wingsuit-Springer einer der Köpfe einer Szene war, in der jeden Sommer mehr als ein Dutzend Menschen sterben. Verantwortungslos vor allem, weil er eine Lebensgefährtin und drei Kinder hinterließ.
Dean Potter selbst betonte stets, ausreichend auf seine Sicherheit zu achten. Er sprach von seiner Erfahrung und einem inneren Gefühl, dass ihm nichts passieren konnte. Diese Worte schien Potter durch andere Aussagen selbst zu konterkarieren. Mehrmals schwärmte er von dem Gefühl, dem Tod beim Fallen nahe zu sein. "Wenn du weißt, dass du tot bist, wenn du einen Fehler machst, führt das zu einer super-intensiveren Wahrnehmung“, sagte er einmal in einem Interview. Jeden Moment sterben zu können, so sagt man, war für ihn die höchste Form des Spiritualismus.

Dean Potter starb mit 43 Jahren.