VON JANINA TOTZAUER | 27.02.2017 13:01

Affen, Fieber und Monsun: Mein Praktikum in Indien

Der Ventilator über meinem Kopf surrte auf Hochtouren, die Mückengitter vor den Fenstern bogen sich in seinem Wind. Der Schweiß tropfte von meiner Stirn auf die Tastatur. Von draußen drang der Lärm der Straße, das Hupen der Rikshas und die Gebete im Tempel vor dem Haus herein. Ich saß in meinem Büro in Thiruvananthapuram, im Süden Indiens, und arbeitete seit einer Stunde an einem Layout für eine Broschüre, die die wundersamen Kräfte eines Gurus anpries. Ich absolvierte das fünfmonatige Pflichtpraktikum für mein Kommunikationsdesign-Studium.



Ich studierte in meinem vierten Semester Design, lernte wie Werbung in Deutschland auszusehen hatte, was ein Unique Selling Point war und wie man Hochglanz-Hipstermagazinen verhalf über fehlenden Inhalt hinwegzutäuschen. Das fünfte Semester rückte näher und wir wurden dazu aufgefordert, uns einen Praktikumsplatz in einem Designbüro zu suchen. Die Idee, weit weg zu gehen, war schnell geboren. Nur sollte es ein Land sein, in dem ich mich ansatzweise verständigen konnte. Indien hat offiziell 122 verschiedene Sprachen und Hunderte Dialekte, den Bewohnern selbst bleibt nur das Englische um sich überregional unterhalten zu können. Ich klickte mich durchs Internet und fand bald einen Blog zweier junger deutscher Studenten, die an der Universität von Thiruvananthapuram in Indien studiert hatten. Über sie schloss ich die ersten Kontakte in Indien und hielt zwei Monate vor Abreise schließlich meinen Praktikumsvertrag in Händen. Ich würde für eine Grafikdesignagentur namens Red Banana arbeiten; rote Banane deshalb, weil nur in Kerala, dem Bundesland dessen Hauptstadt Thiruvananthapuram ist, die seltene rote Banane wuchs. Als ich mit zitternden Händen mein Visum abholte und mich über Wochen in den Räumlichkeiten des Tropeninstituts Impfungen setzen ließ, hatte ich den Traum von einem großen, wilden Land mit Elefanten und Tempeln; und hatte tatsächlich keinen blassen Schimmer was auf mich zukam.

Alltag und Familie

Die Hitze brach über mich herein, als ich den ersten Fuß auf indischen Boden setzte. Ein Freund der deutschen Blogger holte mich am Flughafen ab. Er hieß Pramod, gab mir seine Handynummer und sagte mir, dass die Wohnung, die er mir organisiert hätte, erst in einer Woche bezugsfertig sei. Solange würde ich bei der Familie meines Chefs wohnen. Wir fuhren im Linksverkehr durch Rauch von verbranntem Plastikmüll, Kühe, Rikshas und tausende Menschen. Indien war so, wie ich es mir vorgestellt hatte, nur tausendfach lauter. Pramod erklärte mir, den Palmen stets auszuweichen. In Indien starben angeblich mehr Menschen an Schädelfraktur durch Kokosnuss als an Ertrinken. Der Schweiß rann mir den Rücken entlang, als ich die Familie meines Chefs zum ersten Mal sah. Man empfing mich mit offenen Armen und geleitete mich ins Haus. Sreedevi war mit neunzehn Jahren meines Arbeitgebers älteste Tochter. Die folgende Woche würde ich mir mit ihr das Bett und den Alltag teilen, und eine Freundschaft schließen, die über die Jahre bestehen würde. Sie nannte mich Chechi, große Schwester, und ich sie Aniyethi, kleine Schwester. Schnell dämmerte es mir an diesem ersten heißen Nachmittag in Indien, als ich da so auf dem Sofa saß und mir die gespitzten Lippen am Wohlgeschmack des heißen Kardamom-Tees verbrannte: Fernab von Deutschland war ich innerhalb von wenigen Stunden um drei Geschwister und ein Elternpaar reicher geworden.

Schnell lebte ich mich in meinen Arbeitsalltag ein. Das Büro befand sich in derselben Straße. Zu meiner anfänglichen Verwunderung war nur einer meiner Kollegen in der Lage zu sehen; drei Mitarbeiter waren blind und arbeiteten an einem Online-Audiomagazin. Ihrer Blindheit wurden sie Herr, indem ihre Computer ununterbrochen mit ihnen sprachen. Bewegten sie den Mauszeiger, las der Computer vor, was auf dem Bildschirm geschah. Die Geräuschkulisse im Büro war erstaunlich hoch, die Computerstimmen verschwammen in meinen Ohren zu einem täglichen, dumpfen Grundgeräusch, doch schienen Inder allgemein eine besondere Begabung zu haben, störende Geräusche einfach auszublenden. Dies erfuhr ich auch, als ich das erste Mal meine eigene Wohnung betrat: Mit geschlossenen Fenstern war es aufgrund von schier unzumutbarer Hitze nicht aushaltbar und so zog ich es vor, stundenlang dem Krächzen der tropischen Vögel, den bellenden Straßenhunden, den scheinbar an jeder Straßenecke hupenden Rikshas und schreienden Marktverkäufern zu lauschen. Gerade hatte ich mich an den Dauergebrauch von Ohropax gewöhnt, als eines nachts zwei Lautsprecher vor meinem Fenster begannen bis fünf Uhr morgens fröhliche, indische Musik zu spielen. Als ich neugierig auf die Straße sprang, weil ich einen Umzug oder eine Art Fest erwartet hatte, fand ich nichts weiter als eine gebückt laufende alte Dame vor, die kurz darauf in einem Hauseingang verschwand. Die Lautsprecher schienen kein Publikum zu brauchen und ermüdeten die folgenden fünf Nächte nicht an ihren ewig gleichen drei Liedern. Wo in Deutschland ein wütender Nachbarschaftsmob die Lautsprecher aus den Angeln gehoben hätten und Anwälte mit Paragraphen aufeinander losgegangen wären, schien es in Indien das Wort ‚Ruhestörung‘ nicht zu geben.

Die Arbeit ging mir gut von der Hand. Einer meiner ersten Aufträge war es, eine Broschüre für einen Wohltätigkeitsverein zu entwerfen. Da er sich hauptsächlich um blinde Kinder sorgte, besuchte ich eine Blindenschule, fotografierte den Schulalltag und durfte frei Inhalte und Aufmachung meines Projektes bestimmen. Es folgten die Business-Broschüre für den Guru, ein Marketingprojekt für einen Fernsehsender und eine Art Gebetsband zum Hochzeitstag von einem liebenden Ehemann für seine Frau. Ich begann um 10 Uhr zu arbeiten, trank um 11 Uhr meinen ersten Chai, aß um 12 Uhr zu Mittag, legte mich wie all meine Kollegen gegen 13 Uhr unter den Schreibtisch um eine Stunde dösend der größten Mittagshitze zu entgehen und endete meinen Tag um 16 Uhr, um anschließend noch Zeit für eine Runde Yoga zu haben. Kurup, mein siebzigjähriger Yogalehrer, ähnelte mehr einem Drill-Sergeant als den typisch deutschen Yogatanten, die mich bisher in mein kosmisches Zentrum meditieren wollten.

Auf Reisen

Erschöpft fiel ich allabendlich in mein Bett und plante bereits in Gedanken den nächsten Ausflug. Da meine gute, deutsche Effizienz dazu führte, dass ich mit Projekten schneller fertig war, als mein Chef sich das vorgestellt hatte, entließ er mich oft für mehrere Wochen am Stück, so dass ich mich in einen der vielen Nachtzüge legen konnte und am nächsten Tag in einer anderen Welt erwachte. Ich besuchte Tempel, in denen ich mit Erde bemalt wurde und Kokosnüsse gegen die Wand schmiss, fand Unterschlupf in Ashrams jeglicher Religionen, erwachte an einer über mich kletternden Ratte, erreichte frühmorgens einen Busbahnhof und fand eine alte Frau sterbend am Boden liegen. Ich musste mit ansehen, wie sogar die Polizei mir abriet, einen Krankenwagen zu rufen, da die Dame Angehörige der untersten Kaste sei; außerdem müsse derjenige den Krankenwagen zahlen, der ihn rief. Ich verweigerte Dutzender neugieriger Männer ihre Frage nach Sex, den sie sich von einer freizügigen, moralisch verwerflichen Europäerin erhofften. Ich sah glückliche Kinderaugen, die neugierig von meiner Limonade probierten und half einer gebrechlichen alten Dame durch das Fenster in einen überfüllten Bus. Gegen Ende meines Aufenthalts durchquerte ich das Land bis in den Norden zum heiligen Fluss, Ganges, in Varanasi. Ich teilte meine Chapatti mit Kühen, die sich an meinen Tisch gesellt hatten, ließ auf den Dächern der Stadt mit den Kindern Drachen steigen und kämmte mir jeden Abend die Asche der verbrannten Leichen aus den Haaren. Kleinkinder und Schwangere durften unverbrannt ihre letzte Ruhe im Fluss finden; sie trieben bleich und unwirklich zwischen den badenden Gläubigen hindurch. Von meiner letzten Reise kehrte ich mit starkem Fieber zurück. Meine Haut war rot von den geplatzten Blutäderchen, das Thermometer zeigte 41 Grad. Das Denguefieber beherrschte eine Woche meine Glieder, machte mich müde und ließ mir die Haare ausfallen. Entkräftet, sieben Kilo leichter und voll von besonderen Momenten kehrte ich nach fünf Monaten nach Deutschland zurück.

Ich habe hier den unmöglichen Versuch unternommen, in einem einzigen Artikel ein Land zu beschreiben, dessen Wesen in tausenden Bücher nicht zu fassen ist. In fünf Monaten Indien sammelte ich hunderte Erinnerungen und erkannte, dass sogar sieben Jahre kaum genügen würden, um all die Merkwürdigkeiten zu verstehen. Während meines Praktikums lernte ich weder Hochglanz-Fotomagazine zu gestalten, noch Werbekampagnen für Haarshampoos zu entwerfen. Ich habe keine Ahnung von kommerziell erfolgreichem Marketing, doch habe ich vier Hundewelpen vor dem Monsun gerettet, wurde von Mönchen zum Tee geladen, sah die Affen von Hausdach zu Hausdach springen und sog die ewige Kühle des Himalaya in mich ein. Indien lehrte mich Unersetzliches, und ließ mich vor zwei Jahren wiederkehren. Eine Reisegefährtin sagte mir einst, dass man Indien nur lieben oder hassen kann, es gäbe kein Dazwischen. Ich lernte es lieben.