VON JANINA TOTZAUER | 19.05.2017 15:07

Urbi et orbi: Urbanität heute

Zweimal jährlich segnet der Papst von seinem Balkon im Petersdom herab „die Stadt und die ganze Welt“. Mit der Stadt meint er Rom, eine der ersten wirklich „urbanen“ Großstädte im heutigen Sinne: Ehemaliges Zentrum des antiken Römischen Imperiums. Zwei Jahrtausende später blicken wir auf eine Welt nach Industrialisierung und Landflucht, die vom unaufhaltsamen, exponentiellen Wachstum moderner Millionenmetropolen geprägt ist. Doch was genau bedeutet Urbanität? Was macht Mexiko-Stadt, Hongkong, Berlin oder Moskau urban?



Auf den ersten Blick könnten die Großstädte unserer Welt nicht unterschiedlicher sein - im Architektonischen wie auch im Sozialen. In den meisten amerikanischen Großstädten regiert das Schachbrettmuster den Städtebau. Kilometerweit ziehen sich die immer gleichen Straßen dahin ohne ein bestimmtes Zentrum anzustreben oder auf eine bestimmte architektonische Veränderung zuzulaufen. In deutschen Städten prägt noch immer der alte ursprünglich von der Stadtmauer umgebene Stadtkern das Bild, und in indischen Megacities scheinen sich Hauptstraßen wild mit Trampelpfaden, Bachläufen und Eisenbahnschienen zu paaren. Wer in Mexiko-Stadt mal eben um die Ecke zu einem Kumpel fahren möchte, verbringt schon einmal eine gute Stunde in den Wirren des U-Bahn-Systems, während ein junger Vietnamese auf seinen Roller springt und in Sekunden durch die Hinterstraßen Hanois kurvt. Doch was hat jede Stadt gemeinsam? Was nennen wir urban und was macht uns zu Städtern?

Die ersten Städte

Als eine der ältesten als urban zu bezeichnenden Siedlungen gilt Eridu im heutigen Süd-Irak. Zu Hochzeiten der Stadt um 5000 vor Christus zählte sie damals zu den kulturellen und marktwirtschaftlichen Zentren der Welt und zeigte eine ähnliche Infrastruktur wie unsere Städte heute. Auf der anderen Seite lassen uns die knapp 4000 Einwohner Eridus nur müde lächeln. Es folgten Städte wie Babylon, Troja und Jerusalem. Die Geschichtsschreibung schildert die urbane Lebensart als höflich, akademisch und artig. Die Vorteile des Lebens in der Stadt seien der schnelle Zugang zu Bildungs- und Kultureinrichtungen, der Austausch zwischen den Menschen und der uneingeschränkte Zugang zum technischen Fortschritt. Schon das alte Rom lobte das feine Stadtlatein, das die gebildete Bevölkerung der Hauptstadt von der ungebildeten Landbevölkerung unterschied.

Big City Life heute

Wo in der Antike im urbanen Grün gelustwandelt und gedichtet wurde, erfreut sich der heutige Städter des Dufts von Hundekot und Urin, des stetigen Summens von Autobahnumfahrungen und des zeitlich versetzten Zirpens von Polizei- und Krankenwagensirenen. Doch sind es allein die Menschenmassen, der Verkehr und die gedrängte Stadtarchitektur, die eine Stadt zur Stadt machen?

Was ist die deutsche Leitkultur, und wenn ja, wie viele?

Die Journalistin Aslı Sevindim erkennt als typisches Merkmal für das Urbane die Multikultur. Wo ein erzkatholischer Brötchenbäcker im Bus neben einem zum Ausgehen gestylten Transvestiten sitzt, wo eine jüdische Überlebende des Holocaust im Supermarkt von einem AfD-Wähler bedient wird und wo die türkische Mutter unter der Dusche im Freibad das tätowierte Punkermädchen nach einer Haarspülung fragt, entsteht ein Austausch. Wer in solch einem Umfeld überleben möchte, muss sich in Respekt und Verständnis üben. Der moderne Städter ist gezwungen, sich täglichen neuen Lebensumständen anzupassen und anderen Meinungen ausgesetzt zu sein. Gerade dieses Merkmal scheinen alle Großstädte der Welt gemein zu haben. In Bangalore treffen in der Disko Bluejeans auf Sari, während sich in Johannesburg die junge Nigerianerin in der Uni einen Stift von ihrem homosexuellen Kommilitonen leiht. Eine Stadt muss weniger durch die Vielfalt ihrer Architektur als ihrer Kulturen, Klassen, sexuellen Ausrichtungen und Religionen geprägt sein um sich heutzutage urban nennen zu dürfen. Es scheint ein Widerspruch zu sein, wenn man in den Unterschieden der einzelnen Menschen den einzigen gemeinsamen Nenner sieht, doch genau dieser Punkt macht die Stadt zu einem besonderen Lebensraum. Nur solange in Berlin neben der schicken Kaffeebar auch noch ein Dönerladen bestehen kann, solange die Klänge des hinduistischen Tempels in der Früh die Prostituierten von Mumbais Straßen fegen und solange in Manhattan ein Banker in Anzug noch einem verlotterten Straßenmusiker lauscht, darf sich eine Stadt urban nennen. Die urbane Multikultur ist der Vorreiter der unaufhaltbaren Globalisierung, bedeutet aber gleichzeitig den Erhalt der kulturellen Besonderheiten jedes einzelnen Menschen.