VON LISI WASMER | 13.06.2014 17:21

Die Subjektivität der Wahrnehmung: Rote Erdbeeren, Physik und noch mehr

Es scheint eine natürliche Eigenschaft des Menschen zu sein, Dinge verstehen, erklären und beschreiben zu wollen. Deshalb gibt es Lexika, gibt es Wissenschaften, gibt es Schulen. Wir sind es so gewohnt, uns über alles und jeden in der Welt miteinander zu verständigen, dass wir uns nicht vorstellen können, dabei an eine Grenze zu stoßen. Einen solchen „explanatory gap“ gibt es aber im Bereich der Sinneserfahrungen. Wie erklärt man einem Tauben ein Geräusch? Wie beschreibt man einem Blinden eine Farbe? Vielleicht, indem man die physikalischen Vorgänge des Wahrnehmungsprozesses vermittelt. Aber ist das wirklich dasselbe?


Das zehnbändige „Große Wörterbuch der deutschen Sprache“ zählt 200.000 Wörter. Der Linguist Wolfgang Klein zählte mit seinen Kollegen laut „Welt.de“ sogar „5,3 Millionen lexikalische Einheiten“. Und trotz dieser geballten Wortgewalt ist es uns nicht möglich, einem von Geburt an blinden Menschen zu erklären wie es ist, Farben zu sehen. Wir können beschreiben, welche physikalischen Prozesse ablaufen, wenn wir Farben wahrnehmen. Wir können angeben, welche Wellenlänge welcher Lichtfarbe entspricht – trotzdem würden wir nicht behaupten, unser Gegenüber wüsste anschließend, wie sich die Wahrnehmung der Farbe anfühlt.

Lärm, Stille und alles dazwischen

Mary und die Blumen

Ein in der Philosophie des Geistes häufig zitiertes Gedankenexperiment von Frank Jackson kann das verdeutlichen. Er geht von der Wissenschaftlerin Mary aus, die in einem schwarz-weiß eingerichteten Labor arbeitet und nichts von der Welt sieht als das, was ihr auf einem schwarz-weiß-Fernseher gezeigt wird. Mary kennt alle wissenschaftlichen Fakten über Farben. Sie weiß, welche Dinge für gewöhnlich welche Farbe haben, sie kennt die Wellenlängen der einzelnen Farben und sie weiß auch, welche physikalischen Prozesse ablaufen, wenn Menschen eine Farbe wahrnehmen. Aber Mary hat selbst noch nie eine Farbe gesehen. Deshalb gibt es etwas, was Mary nicht über Farben weiß. Sie weiß nicht, wie es ist, eine Farbe zu sehen.

Oder anders: Würde Mary ihr Labor verlassen und sich beispielsweise vor der Tür eine Wiese mit roten Blumen ansehen, dann würde sie etwas Neues lernen. Sie wüsste mehr über die Farbe Rot als nur die entsprechende Wellenlänge des Lichts oder die physikalischen Prozesse, die das Betrachten der Farbe in ihrem Gehirn auslöst. Sie wüsste, wie es ist, rot zu sehen. Dieses Experiment sollte ursprünglich den Beweis liefern, dass mehr existiert als nur Physisches, dass es darüber hinaus etwas Geistiges gibt, was nicht mit mechanischen oder chemischen Prozessen beschrieben werden kann.

Michael Stevens und die Erdbeeren

In eine ähnliche Richtung geht eine Frage, über die wohl viele Menschen früher oder später einmal stolpern, für die aber keine befriedigende Antwort gefunden werden kann und der sich auch der Youtube-Educator Michael Stevens auf dem Infochannel „Vsauce“ beschäftigt: Angenommen, Michael und sein Kumpel schauen auf einen Korb mit Erdbeeren. Beide gelten als normal sehend, also nicht farbenblind. Beide sehen die Farbe Rot. Bleibt die Frage: Sehen sie das gleiche Rot? Oder gibt es einen Unterschied in ihrer Farbwahrnehmung, der nur nicht auffällt, weil beide im Laufe ihres Lebens gelernt haben, eben das, was jeweils sie als Rot sehen, auch als Rot zu bezeichnen?

Die beiden könnten sich anschauen und überlegen: Wie ist es für den jeweils anderen, Rot zu sehen? Ein ebenfalls beliebtes Beispiel ist die Schmerzwahrnehmung. Michael Stevens geht von einem Alien aus, der (wie schon Jacksons Mary) alles darüber weiß, wie ein schmerzhaftes Gefühl zustande kommt, selbst jedoch nicht in der Lage ist, Schmerz zu empfinden. Es wäre uns unmöglich, ihm zu erklären, wie es tatsächlich ist, Schmerzen zu haben.

Barry Dainton, Dan Zahavi und der entsprechende Blickwinkel

In der Fachsprache heißen solche unbeschreiblichen Gefühle Qualia. Philosophen streiten seit Jahrzehnten darüber, wie diese Qualia beschaffen sind, welchen metaphysischen Status sie besitzen, welche Bedeutung für unser Weltbild sie haben. Besonders interessant ist die bereits angeklungene Frage danach, ob verschiedene Personen dieselben Qualia erfahren können.

Ja, sagt zum Beispiel Barry Dainton von der University of Liverpool in „The Phenomenal Self“, wo er seine Meinung ebenfalls mit einem Gedankenexperiment untermauert. So behauptet Dainton, es sei gut vorstellbar, dass jemand eine Maschine „VR-4“ erfindet, die eine virtuelle Realität erschafft. An diese Maschine könnte ein Mensch angeschlossen werden, dessen „Psychologie“ dadurch pausiert wird, um ihm gleichzeitig eine ganz neue „Psyche“ einzuspielen. Nehmen wir an, der Mensch heißt Paul, ist Mitte 20 und Student. Wird Paul nun an VR-4 angeschlossen, wird sein gesamtes Gedächtnis, sein Bewusstsein, sein gesamter Geist gewissermaßen auf ein Abstellgleis geschoben. Stattdessen erhält er neuen Input von der Maschine, beispielsweise das Bewusstsein eines U-Boot-Kommandanten im zweiten Weltkrieg. Wird VR-4 abgestellt, rollt Pauls Bewusstsein wieder vom Abstellgleis auf die Stammstrecke, alles ist wie vorher, Paul ist und bleibt er selbst.

Stimmt nicht, sagen andere wie Dan Zahavi vom Center for Subjectivity Research in Dänemark. In „Subjectivity and Selfhood“ (2005) erklärt er, um bewusst zu sein, benötige man immer auch „first-personal access to one’s own experiential life“, also die bewusste Wahrnehmung in einem „first-personal mode of givenness“ (S. 115). Was heißt das? Es heißt, dass wir einen privilegierten Zugang zu unseren Erfahrungen haben, der unsere Wahrnehmung von der aller anderen Menschen unterscheidet: Wir sind jeweils die einzigen, die unsere Wahrnehmung aus der Erste-Person-Perspektive wahrnehmen.

Das ist der Grund, warum Paul nicht mehr er selbst wäre, würde sein Bewusstsein von VR-4 durch das eines U-Boot-Kommandanten ersetzt. Und das ist auch der Grund, warum Michael Stevens niemals wissen kann, ob er das Rot der Erdbeeren genauso wahrnimmt wie sein Kumpel. Niemand kann diese Erste-Person-Perspektive für einen anderen einnehmen. Und niemand kann erklären, wie es ist, diese Perspektive auf etwas zu haben. Wir können einem von Geburt an Blinden nicht erklären wie es ist, Farben zu sehen. Und ein schmerzunempfindlicher Alien wird niemals wissen, wie sich Bauchweh anfühlt.