VON SIVAN BERSHAN | 04.03.2011 11:23

Netzwerkanalyse und Beziehungen

Beziehungen sind bisher ein eher unterrepräsentiertes Thema in der Forschung. Doch die weltweit zunehmende Nutzung von globalen Internet Communities macht Beziehungen maschinell untersuchbar und katapultiert sie damit ins Zentrum der Wissenschaften. Insbesondere die Netzwerkanalyse eröffnet neue Perspektiven für Sozial-, Wirtschafts- und Naturwissenschaften.

Beziehungen sind unser sozialer Ankerpunkt. Wir bilden im Laufe der Zeit ein komplexes Geflecht aus Personen um uns herum, in dem wir unsere Position in der Gesellschaft definieren. Abhängig von sozioökonomischen Faktoren – Alter, Geschlecht, Glaubenszugehörigkeit oder Beruf – besitzen wir unterschiedlich starke Fähigkeiten und Bedürfnisse in Bezug auf diese Netzwerke.

Die Netzwerkanalyse, die ihren Ursprung in der abstrakten Mathematik hat, fand in den letzten Jahren verstärkt Eingang in die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, weil sie die Möglichkeit bietet, lose organisierte Einheiten in Interaktion zu betrachten. Durch die boomende Social Media Branche erlebt die Netzwerkforschung ein fachübergreifendes Hoch. Mittlerweile nutzen Vertreter aller Disziplinen dieses Instrument: Von der Erforschung von Emotionen bis hin zur Seuchenbekämpfung bietet Netzwerkanalyse neue Perspektiven.

Professor Ulrich Mees vom Institut zur Erforschung von Mensch-Umwelt-Beziehungen der Universität Oldenburg beschäftigt sich aus forschungstheoretischer Perspektive mit dem Thema Liebe. Nach seinen Ergebnissen ist der wahrgenommene eigene Bedeutungsverlust der häufigste Grund für ein „Entlieben“ in Liebesbeziehungen. Somit wird das eigene Gefühl offenbar stark durch das Verhalten anderer Personen beeinflusst.

Dass die Betrachtung von Gefühlen im Netzwerk Sinn macht, zeigt Nicholas Christakis, der an der Universität Harvard erforscht, wie das Gefühl glücklich zu sein sich innerhalb einer Gemeinschaft verbreitet. Er kommt zu dem Schluss, dass die individuelle emotionale Situation stark von derjenigen anderer abhängt. Er belegte in einer empirischen Studie, dass sich Glücksgefühle ähnlich wie eine virale Infektion verbreiten. Die Wahrscheinlichkeit, dass Freunde und Freundesfreunde von glücklichen Menschen ebenfalls glücklich sind, steigt um 15 bzw. 10% gegenüber dem Durchschnittswert. Die Ursache liegt laut Christakis darin, dass wir dazu tendieren, uns unbewusst gegenseitig nachzuahmen. Diese Ergebnisse sind noch in einem weiteren Zusammenhang interessant: Christakis konnte erstmals eine Grenze der Erreichbarkeit über höchstens drei Ebenen feststellen. Diese Erkenntnis kann von großer Bedeutung für die Anwendung von Netzwerkanalyse in anderen Bereichen sein.

Das Verständnis, wie Netzwerke funktionieren, ist in vielen Kontexten nützlich, so etwa auch zur Eindämmung von Epidemien. Kennt man die Hubs – in diesem Zusammenhang auch „Superspreader“ genannt – ist die Impfung dieser wenigen Personen etwa so effizient, als würde man 95% der Bevölkerung zufällig impfen.

Dieser kurze Überblick über die Anwendungen der Netzwerkforschung zeigt, welche Bedeutung Beziehungen im Kontext der aktuellen Forschung haben. Der Einfluss zwischen dem Individuum und seinem Netzwerk ist reziprok und besteht über bis zu drei Ebenen hinweg. Die zahlreichen Anwendungsgebiete einer Netzwerkanalyse und der zunehmend erleichterte Zugang zu relevanten Daten werden vielleicht zu einer stärkeren Annäherung von Natur- und Sozialwissenschaften und – ganz im Sinne des Netzwerkdenkens – zu einer stärkeren gegenseitigen Einflussnahme führen.