VON CLEMENS POKORNY | 03.08.2015 16:35

Kann ich wollen, was ich will?

Eine Nachricht füllt alljährlich wiederkehrend spätestens das Sommerloch: Laut aktuellen Ergebnissen der Hirnforschung haben wir Menschen keinen freien Willen! Wir sind gleichsam Marionetten unseres Gehirns! Doch es lässt sich leicht einsehen, dass diese Behauptung auf falschen Voraussetzungen beruht. Und letztlich ist die seit der Antike diskutierte Frage nach der Willensfreiheit letztlich nur eine Sache der Perspektive – und damit der Frage, was wir eigentlich meinen, wenn wir von ich bzw. wir, unserem Wollen und unserer Freiheit sprechen.

Stell dir vor, kein Mensch wäre mehr für seine Taten verantwortlich. Das wäre das Ende unseres Rechtssystems: Niemand könnte für seine Straftaten zur Rechenschaft gezogen werden. Anarchie und das Brechen aller moralischen Dämme wären die Folgen.

Ein Science-Fiction-Szenario? Aber zumindest auf den ersten Blick die logische Schlussfolgerung aus wiederkehrenden Behauptungen von Seiten der Naturwissenschaft, die sich kurz zusammenfassen lassen: Wir haben keinen freien Willen. Unser gegenteiliges Empfinden ist bloße Illusion. Alles in unserer Welt unterliegt den Naturgesetzen, so auch der menschliche Geist.

Wie das Internet uns sagt, was wir wollen

Eine Argumentationslinie in diesem Sinne geht von Experimenten aus, die der Physiologe Benjamin Libet 1979 erstmals durchführte und die seitdem häufig und von verschiedenen Wissenschaftlern wiederholt wurden. Dabei sollten – in der ursprünglichen Form – Probanden zu frei gewählten Zeitpunkten ihre rechte Hand bewegen und jeweils danach mit Hilfe einer Uhr angeben, wann sie zuvor den Drang zu der Bewegung verspürt hatten. Ergebnis: Im Gehirn der Versuchspersonen waren die Nervenaktivitäten, die im Vorfeld einer Handbewegung auftreten, deutlich vor dem Bewusstwerden des Bewegungsimpulses messbar. Aber ist eine einfache Geste überhaupt eine mit vollem Bewusstsein ausgeführte, echte Handlung? Oder eher so etwas wie eine Routine, die wir „ohne nachzudenken“ erledigen, wie wir z.B. links-rechts-links schauen, bevor wir eine Straße überqueren? Dass unser Gehirn sehr einfache Entscheidungen trifft, auch bevor wir uns dieser Entscheidungen bewusst werden, lässt sich nämlich nicht ohne Weiteres auf komplexe Entscheidungen übertragen – oder gar darauf, ob wir überhaupt etwas wollen und nicht nur, wann.

Für die Handlungen eines Menschen sind Gründe ausschlaggebend. Darin unterscheiden wir uns von den Tieren: Dass wir vor, während oder nach einer Handlung darauf reflektieren und darüber sprechen können, warum wir so und nicht anders gehandelt haben. Ob die Gründe wohlerwogen waren, ob wir einem spontanen Einfall gefolgt sind, und ob wir uns genauso entschieden hätten, wenn wir mehr Lebenserfahrung oder mehr Wissen gehabt hätten oder kognitiv leistungsfähiger gewesen wären, spielt dabei keine Rolle. Gerade wenn wir unser Handeln im Nachhinein bereuen, zeigen wir, dass wir in der Lage sind, in Zukunft anders zu handeln. Davon geht zurecht auch das Strafrecht aus, indem es die aufrichtige Reue eines geständigen Übeltäters berücksichtigt.

Wie aber unsere verstandesmäßige Konstruktion von Gründen physikalisch determiniert sein soll, lässt sich noch schlechter beweisen. Dies wäre auch unnötig. Schon die Interpretation der Experimente von Libet und seinen Nachfolgern geht nämlich von einer falschen Voraussetzung aus. Sie behauptet eine Trennung meines Gehirns von meinem Willen, die doch gar nicht existiert: Mein Gehirn, das bin ja ich! Mögen mich auch meine Gene und alle Erlebnisse meines bisherigen Lebens derart bestimmen, dass sich genau vorhersagen lässt, wie ich in einer so oder so gearteten Situation agieren werde, so sind dies doch genau die Elemente, die meine einzigartige Persönlichkeit ausmachen. Willensfrei zu sein, heißt, dass ich meine Persönlichkeit annehme, die ja nicht von irgendeiner fremden Macht geformt wird. Es heißt nicht, dass ich auch in Zukunft immer derselbe Mensch bleibe, der ich jetzt bin.

Und auch hierin deckt sich das Strafrecht mit unser Intuition, frei wollen, entscheiden und handeln zu können. Strafe hat nur dann einen Sinn, wenn sie einen Rechtsbrecher zum Besseren hin beeinflusst. Dass sie das vermag, würden auch die „Deterministen“, wie die Leugner der Willensfreiheit genannt werden, nicht bestreiten. Mit ihnen wäre Strafe als Umwelteinfluss zu verstehen, der die Persönlichkeit des Bestraften modifiziert und so auch sein künftiges Wollen verändert. Deshalb ist die (gar nicht existente) „Willensfreiheit“, wie sie ihre Gegner verstehen, für unser Rechtssystem auch keine nötige Voraussetzung. Anders gesagt: Selbst wenn wir nicht willensfrei wären, hätten Gesetze einen Sinn und könnten wir für unsere Gesetzesübertretungen belangt werden.

So bleibt es dabei, dass ich z.B. einen Apfel essen will, auch wenn es in Wahrheit mein Körper ist, den gerade nach genau dieser Verbindung von Zucker, Säure und Ballaststoffen verlangt. Weil mein Körper eben mit mir identisch ist und also seine Bestrebungen die meinigen sind. Und weil ich frei von finsteren Mächten bin, die mich lenken wie in der „Matrix“.

Lesetipps:
Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens. Hanser Verlag, München/Wien 2001.
Julian Nida-Rümelin: Über menschliche Freiheit. Reclam Verlag, Stuttgart 2005.