VON CLEMENS POKORNY | 21.06.2012 15:41

Hunger: Von den komplexen Ursachen eines Massenphänomens

Von Hunger und seinen oft lebenslangen Folgen sind weltweit fast eine Milliarde Menschen betroffen, aktuell droht in der Sahelzone eine Hungersnot. Die Ursachen dafür sind vielfältig und komplex.

Nach der letztjährigen Hungerkrise am Horn von Afrika droht nun in den Ländern der Sahelzone wie Niger, Mali, Burkina Faso oder dem Senegal eine ähnliche Katastrophe. 16 Millionen Menschen könnten in den nächsten Monaten, vor allem aufgrund ausbleibender Ernten, von Hilfslieferungen abhängig sein. Es wäre die sechste Hungersnot in Afrika seit dem Jahr 2000. Was sind die Ursachen dieses Problems? Und warum ist es bisher nicht gelungen, den Welthunger in den Griff zu bekommen?

Alle drei Sekunden stirbt auf der Welt ein Mensch an Hunger, fast neun Millionen Menschen jährlich. Am härtesten trifft es die Schwächsten: Hungertote sind meistens Kinder. Viele überleben zwar eine Hungerkrise, doch wenn sie diese in ihrer Wachstumsperiode trifft, leiden die Betroffenen ihr Leben lang unter den Folgen der Mangelernährung, zum Beispiel Verkrüppelungen. In Afrika hungern im Verhältnis zu seiner Einwohnerwahl am meisten Menschen, doch auch in Asien, dem Nahen Osten und Südamerika stellt Unterernährung ein gravierendes Problem dar. Insgesamt leiden weltweit etwa eine Milliarde Menschen daran - Tendenz steigend.

Master of Disaster

Spekulation mit dem Hunger

Der Hunger in Entwicklungsländern heute hat oft andere Gründe als es in Europa bis ins 19. Jahrhundert der Fall war. So wird die Ursache für die Dürren, welche die Hungersnöte der vergangenen Jahre in Afrika ausgelöst haben, vielfach im menschengemachten Klimawandel gesehen. Das gerade in ärmeren Regionen der Welt ungebremste Bevölkerungswachstum sowie insbesondere in Afrika Korruption und bewaffnete Konflikte tragen das Ihre zum Hunger bei - obwohl eigentlich genug Lebensmittel vorhanden wären. Bis zu 12 Milliarden Menschen könnte die Erde schon heute ernähren, und diese Zahl läge noch höher, wenn Getreide nicht zur Energiegewinnung verfeuert, zu Biokraftstoffen verarbeitet oder zur übermäßigen Fleischproduktion an Tiere verfüttert würde. Diese Zweckentfremdung von Grundnahrungsmitteln treibt überdies deren Preis in die Höhe. Die reichen Länder profitieren oft einseitig vom freien Welthandel und unterbieten die Preise einheimischer Bauer in Entwicklungsländern mit dem Export hoch subventionierter Lebensmittel. Und schließlich wurde in den letzten Jahren an der Börse verstärkt auf die Preisentwicklung von Nahrungsmitteln spekuliert: ein nachweislich relevanter Faktor bei der Entstehung von Hungerkrisen. Insgesamt betrachtet stellt sich Hunger heute in erster Linie als ein Problem der Nahrungsmittelverteilung dar; eine funktionierende Infrastruktur und ein stabiles politisches System sind wesentliche Voraussetzungen zur Prävention.

Eine weitere Schwierigkeit bei der Hungerbekämpfung liegt in der mangelnden Wahrnehmung des Phänomens. Hunger tritt meist nicht akut auf, sondern betrifft in chronischer Weise arme Bevölkerungsschichten, auch in Entwicklungsländern. Diese Art der Unterernährung erfährt kaum mediale Inszenierung und dementsprechend keine Aufmerksamkeit seitens der Weltöffentlichkeit. Ähnlich wie bei Naturkatastrophen kommt Hilfe von außen erst dann, wenn mitleiderregende Bilder den moralischen Druck auf Bewohner und Regierungen der Industrieländer erhöhen. Sie kommt dann aber für viele Betroffene schon zu spät. Da nützt auch das Hunger-Frühwarnsystem FEWS NET der US-Entwicklungshilfeagentur wenig: auf dessen Alarmsignale reagierte man letztes Jahr viel zu zögerlich - es kam zur Hungerkrise am Horn von Afrika. Daher wird in betroffenen Gebieten mittlerweile verstärkt auf Vorbeugung gesetzt. In der Sahelzone entsteht derzeit die "Große Grüne Mauer", ein Schutzwall gegen die weitere Ausbreitung der Sahara, bestehend aus einem bis zu mehrere Dutzend Meter breiten Gürtel aus besonders angepassten und widerstandsfähigen Pflanzen. Er soll sich einmal über Hunderte von Kilometern quer durch Afrika ziehen. Doch auch mit der langfristigen Eindämmung der Wüste bekommt man eben nur eine der vielen Ursachen des Welthungers in den Griff.