VON MAXIMILIAN REICHLIN | 05.02.2016 14:59

Gewalt unter Jugendlichen – Wo kommt sie her und wie verhindern wir sie?

Jugendgewalt ist immer mal wieder ein großes Thema in Politik und Medien. Dramatisierende Berichte zeichnen erschreckende Bilder prügelnder Jugendbanden und Vergewaltiger. Schuld an der Gewalt haben in diesen Berichten oft Menschen mit Migrationshintergrund und Asylsuchende sowie die allseits beliebten Killer- und Ballerspiele. Psychologen und Pädagogen warnen jedoch davor, Jugendgewalt derart undifferenziert zu betrachten und weisen auf andere Ursachen hin: Ein zerrüttetes Elternhaus, Misserfolge in Schule und Job, schlechte Bildungsstandards. Eine gezielte Prävention müsse schon in der Erziehung und in der Schule stattfinden. Dass dies bereits in Teilen geglückt ist, zeigen die rückläufigen Zahlen der Jugendgewalt, die aus polizeilichen Statistiken hervorgehen.


Was ist Jugendgewalt? Eine Begriffsdefinition

Als Jugendgewalt versteht man grob Gewaltdelikte, die von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden begangen werden. Dazu zählt in erster Linie körperliche Gewalt in tätlichen Angriffen, Prügeleien oder Vergewaltigungen, allerdings auch verbale Angriffe, Erpressung, Sachbeschädigung oder psychische Gewalt in Form von Mobbing. Aktuelle Zahlen zum Thema sind erschreckend: Im Jahr 2014 waren in über 30 Prozent der polizeilich erfassten Gewaltdelikte Kinder und Jugendliche unter 21 Jahren verdächtig. Dabei handelte es sich in erster Linie um Delikte der gefährlichen bis zur schweren Körperverletzung sowie um Raub oder Erpressung.

Eine im vergangenen Jahr veröffentlichte Erhebung des Deutschen Jugendinstituts kennt weitere Fakten. So ist Jugendgewalt in den meisten Fällen ein episodisches Problem, legt also beim jugendlichen Täter nicht zwangsläufig den Grundstein für weitere Straftaten. Außerdem zielt Jugendgewalt in den meisten Fällen auf Menschen gleichen oder ähnlichen Alters ab. Die Opfer sind in erster Linie also ebenfalls Jugendliche. Zudem ist Jugendgewalt hauptsächlich ein männliches Phänomen: Rund 70 Prozent der Gewalttätigen sind Jungen.

Polizeiliche Statistiken belegen: Jugendgewalt geht zurück

Dabei werden die Täter nicht nur immer jünger sondern auch immer brutaler. So geht aus Erhebungen von Notaufnahmen hervor, dass an Wochenenden schwere Gesichts- und Oberkörperverletzungen bei Jugendlichen signifikant häufiger auftreten, als noch vor einigen Jahren. Die Polizei konstatiert in Berichten zudem eine „erhöhte Gewaltbereitschaft bei gesunkener Hemmschwelle“. Quantitativ ist die Gewaltkriminalität von Jugendlichen in Deutschland aber rückläufig. Zwar stieg die Zahl in den Jahren vor 2007 kontinuierlich an, seitdem verzeichnet die Polizeiliche Kriminalstatistik aber jährliche Rückgänge. Im Jahr 2013 war die Jugendgewalt in der Bundesrepublik auf einem Level, das dem Stand des Jahres 1995 ähnelt, Tendenz weiter fallend.

Diese Zahlen sind zwar weniger repräsentativ, wenn man sich ins Gedächtnis ruft, dass hier nur die Hellziffer der Delikte von Jugendgewalt erfasst werden kann, und viele Fälle aufgrund fehlender Anzeigen oder Aufklärung im Dunkeln bleiben. Allerdings festigen auch diverse Dunkelfeldstudien der Polizei die These, dass die Kriminalität im Jugendbereich rückläufig ist. Professor Christian Pfeiffer, ehemaliger Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts in Niedersachsen, erkennt darin die Auswirkungen der veränderten Erziehungskultur in Deutschland. Durch den sogenannten „Züchtigungsparagraphen“ ist Gewalt in der Kindererziehung seit dem Jahr 2000 unzulässig, das wirke sich auch auf den Umgang der Jugendlichen untereinander aus.

Ursachen für Jugendgewalt: Soziale Verhältnisse und mangelnde Bildung

Pfeiffer nennt damit eine der Hauptursachen für Jugendgewalt: Die Reflektion der im Elternhaus erlernten Umgangsformen. Eine Umfrage des Kriminologischen Forschungsinstituts unter repräsentativ ausgewählten Jugendlichen zeigt diesen Zusammenhang deutlich: So werden unter 21-jährige, die von ihren Eltern massiv geschlagen werden, im Schnitt fünfmal häufiger selbst zu Gewalttätern. Weitere Gründe für frühe Gewalt sind wahrscheinlich ein problematisches soziales Umfeld sowie mangelndes Bildungsniveau. Wo sich der betreffende Jugendliche Liebe und Anerkennung nicht im Elternhaus oder durch schulische und berufliche Erfolge sichern könne, müsse er sich mit Gewalt Respekt in der Gruppe verschaffen, so ein Erklärungsversuch.

Migrationshintergrund und Killerspiele haben mit Jugendgewalt kaum etwas zu tun

Entgegen gegenteiliger Mediendarstellungen ist die ethnische Herkunft zumeist keine Ursache, wie jüngste Untersuchungen des Bundesinnenministeriums zeigen. So seien zwar überproportional viele Jugendliche mit Migrationshintergrund in Gewaltdelikte verwickelt, dies treffe aber nur auf ausländische Jugendliche in einer sozialen Schieflage zu. Nehme man statt der ethnischen Herkunft wieder das soziale Umfeld als Indikator, so gleiche sich die Zahl der Gewalttäter mit Migrationshintergrund der Zahl der deutschen Täter in den meisten Fällen an.

Auch der Zusammenhang zwischen Jugendgewalt und den medial periodisch als Hauptursache genannten „Killerspielen“ ist verschwindend gering. Das haben Psychologen an der Stetson University in Florida herausgefunden: „Statistisch ist der Effekt von gewaltverherrlichenden Medien so gering, dass er gegenüber anderen Variablen kaum eine Rolle spielt.“

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Statistiken geben keinen Aufschluss – Der Ansatz muss in Familie und Schule erfolgen

Immer wieder warnen Psychologen und Pädagogen davor, Jugendgewalt schwarz-weiß oder nur durch die zur Verfügung stehenden Statistiken zu betrachten. 3-Sat-Kollumnist Gert Scobel konstatiert, es sei schwer, das Phänomen der Jugendgewalt in allen Facetten zu verstehen, da viele Erklärungsversuche in die Irre führen oder ins Leere laufen können. Ähnlich sehen es die Experten: „Grundsätzlich sagen Zahlen nichts über Ursachen und Qualität von Gewalthandlungen aus“, schreiben die Schweizer Psychiater Josef Sachs und Volker Schmidt in Ihrem Buch „Faszination Gewalt“. Man müsse differenzierter vorgehen. Vor allem der mediale und politische Umgang mit Gewalt sei oft mangelhaft und suche an der falschen Stelle nach Schuldigen.

Ein Ansatz zur Prävention von Jugendgewalt sei die Erziehungsarbeit in der Familie. „Richtige Erziehung bringt den Kindern gewalthemmendes Verhalten bei: Mitleid oder die Fähigkeit zum schlechten Gewissen sind anerzogen. Deshalb brauchen Eltern Mut zur Erziehung“, so Volker Schmidt in einem Interview mit dem Spiegel. Auch eine gute Beziehung zwischen Lehrkräften und Kindern sei eine wichtige Voraussetzung für einen gewaltfreien Umgang mit Mitschülerinnen und Mitschülern. Leider stehe die seit PISA zu oft hinten an, dabei könnten Grundschul- und Unterstufenlehrerinnen und -lehrer mit ihrem unbefangenen Blick ein exzellentes Frühwarnsystem für gewaltbereite Jugendliche darstellen. In besonderen Härtefällen sei dann psychologische Betreuung unabdingbar, denn viele der gewalttätigen Jugendlichen leiden an emotionalen und psychischen Defiziten, die bis ins Psychopathische reichen.

Jugendgewalt löst sich meist von selbst auf

Abseits solcher Härtefälle kommt das Ende der Gewaltbereitschaft in der Regel von alleine, so die einstimmige Meinung der meisten Fachleute. Die Gewaltspitze liegt demnach bei 16 bis 21 Jahren, danach flaut sie wieder ab. Diese Erkenntnis bringt den Opfern von Jugendgewalt zwar gar nichts und macht differenzierte und effektive Präventivmaßnahmen auch nicht obsolet. Dennoch wirft sie, am Ende des Tages, möglicherweise ein beruhigendes Licht auf eine Debatte, die in Politik und Medien ansonsten mit einem konstanten Hang zur Radikalisierung geführt wird: Ein Großteil der straffälligen Jugendlichen wächst zu friedlichen und unauffälligen Erwachsenen heran.