VON MAXIMILIAN REICHLIN | 12.04.2016 14:41

Amnesty Jahresbericht 2015/16: Massive Menschenrechtsverletzungen im Kielwasser des Syrien-Konflikts und der Flüchtlingskrise

Der Jahresbericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International wurde veröffentlicht – und enthält schockierende Entwicklungen. So habe sich die Menschenrechtslage auf der ganzen Welt massiv verschlechtert. In Deutschland wird vor allem die fehlgeleitete Flüchtlingspolitik angeprangert. In Polen und der Türkei geriet die Unterdrückung der Presse- und Meinungsfreiheit unter Kritik, in Frankreich und den USA Abhör- und Durchsuchungsmaßnahmen unter der Maßgabe der Terrorprävention. Woran es vor allem in der EU mangelt: Wirksamen Mechanismen zum Schutz der Menschenrechte sowie zur Sanktionierung der missachtenden Staaten.


Schon in der deutschen Zusammenfassung des Jahresberichtes für 2015/16 nimmt Amnesty kein Blatt vor den Mund und benennt sofort Missstände: Der Internationalen Gemeinschaft wird Versagen beim Verhindern und Lösen großer Krisen vorgeworfen, allen voran der Syrienkonflikt sowie die Flüchtlingskrise. „Der Grund für dieses Versagen liegt in einer Kontinuität des Wegschauens und einer egoistischen Fokussierung auf nationale Interessen, die sich bei vielen Regierungen finden“, so beispielsweise Selmin Çalışkan, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland. Indirekt seien solche Staaten mitverantwortlich für die massiven Menschenrechtsverletzungen, die sich 2015 beobachten ließen.

In Deutschland – Flüchtlingspolitik wird stark kritisiert

Für Deutschland selbst hat der Amnesty-Bericht nur wenig Lob übrig. Dabei ist die Flüchtlingskrise das große Hauptthema des Länderkapitels Deutschlands. Zwar befürwortet die Autorenschaft die Willkommenskultur in der Gesellschaft, der politische Umgang mit der Flüchtlingskrise geriet dagegen in harsche Kritik. Dazu zählt vor allem das im Oktober verabschiedete Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz, das die Liste der sicheren Herkunftsländer erweiterte und somit die Chancen der Flüchtenden aus diesen Ländern auf Asyl in Deutschland stark einschränkte.

Im „krampfhaften Versuch, die Flüchtlingszahlen zu senken“ habe die Bundesregierung die Menschenrechte total aus dem Blick verloren. Ein Symptom dafür sei nicht zuletzt die deutsche Partnerschaft mit der Türkei. So habe man in der Bundesregierung von einer anfangs „flüchtlingsfreundlichen Haltung“ den Kurs gewechselt und setze nun auf Erdogan als strategischen Partner in der Flüchtlingskontrolle. Dass dessen Regierung regelmäßig Menschenrechte verletze, etwa durch den Einsatz massiver Polizeigewalt und die Beschränkung der Meinungsfreiheit, werde dabei ignoriert, so Amnesty Deutschland.

Ärzte ohne Grenzen

In Europa – Es fehlt an konsequenten Mechanismen

Nicht nur Deutschland kriegt im Jahresbericht „sein Fett weg.“ Allgemein seien in Europa für das Jahr 2015 signifikant viele schwere Menschenrechtsverletzungen zu verzeichnen. In Polen beispielsweise sieht Amnesty seit dem Amtsantritt der Partei für Recht und Gerechtigkeit im November sowohl die Meinungsfreiheit als auch die Gewaltenteilung in Gefahr. Zwar begrüßt Amnesty in diesem Fall das Einschreiten der EU-Kommission. Man sei in Europa allerdings noch weit von einem wirksamen und konsequenten Schutzmechanismus entfernt. „Die Europäische Union braucht endlich eine Strategie für eine Menschenrechtspolitik im Inneren“, so Çalışkan.

In Frankreich prangert der Bericht vor allem die behördliche Missachtung der „Unverletzlichkeit der Wohnung“ während des Ausnahmezustands an. Im Zuge der Terroranschläge Ende 2015 waren im Dezember mindestens 2.700 Hausdurchsuchungen vorgenommen worden, die die Privatsphäre der Opfer zutiefst verletzten – und letzten Endes kaum Ergebnisse ergaben. Auch solche vergleichsweise kleinen Menschenrechtsverletzungen häufen sich im Amnesty-Bericht – darunter fallen etwa auch die schon lange stark umstrittenen Überwachungsmaßnahmen der USA. Amnesty-Generalsekretär Salil Shetty bewertet diese Aktionen extrem kritisch: „Menschenrechte dürfen nicht geopfert werden unter dem Vorwand eines vagen Terrorverdachts!“

Im Rest der Welt – Folter, Willkür, Todesstrafe

Auch die übrige Zusammenfassung des Berichts liest sich wie ein Armutszeugnis: In rund 120 von 160 untersuchten Ländern stellte Amnesty Misshandlungen und Folterpraktiken von Seiten der Regierungen fest, in mindestens 113 Staaten wurden Presse- und Meinungsfreiheit stark eingeschränkt oder unterdrückt. Die wirklich „bösen Buben“ des Berichts sind die 19 Staaten, in denen Amnesty im Jahr 2015 Verletzungen gegen das Kriegsrecht oder das Völkerrecht feststellen konnte. Dazu zählen Staaten wie China oder Saudi-Arabien. Letztere gerieten vor allem wegen ihres umstrittenen Justizsystems in die Kritik. So stieg in beiden Ländern die Anzahl von Exekutionen, auch bei weniger schweren Vergehen als Mord, stark an – in Saudi-Arabien auf rund 150, in China dagegen auf mehrere tausend. „Wir vermuten, dass China wieder mehr hinrichten ließ als der gesamte Rest der Welt zusammen“, so Oliver Hendrich von Amnesty.

Am Ende – Menschenrechtsfreundliche Politik muss unbedingt gefördert werden

Der Bericht zeichnet ein erschreckendes Bild: Insgesamt habe sich die Menschenrechtslage international extrem verschlechtert. Amnesty ruft daher Regierungen dazu auf, ein menschenrechtsfreundliches Umfeld zu schaffen und zu verteidigen, anstatt auf den arabischen Frühling und den internationalen Terror mit Repression zu reagieren. Das sei nicht nur auf staatlicher Ebene relevant, sondern auch und vor allem auf gesellschaftlicher Ebene. So fordert Generalsekretär Shetty: „Regierungen müssen Menschenrechtsverteidigern und Aktivisten ausreichend Raum und Freiheit gewähren, um ihrer wichtigen Arbeit nachgehen zu können.“

Zum Abschluss des Vorworts zum Amnesty Jahresbericht betont Shetty vor allem noch einmal, dass Menschenrechte kein „schmückendes Beiwerk“ einer funktionierenden Regierung sind, sondern dass Menschenleben auf dem Spiel stehen: „Angesichts dieser Situation ist es nicht in unser Belieben gestellt, ob wir den Schutz der Menschenrechte und den Schutz der Zivilbevölkerung verbessern. Es ist buchstäblich eine Frage von Leben und Tod.“ Weitere Informationen zum Jahresbericht sowie ausgewählte Länderkapitel des Berichts finden sich auf auf der Homepage von Amnesty International.