VON ANGELA SCHWEIZER | 11.12.2014 14:41

Bewaffneter Frieden - Über die Arbeit von Favelawatchblog

Im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien marschierten Polizei und Militär in hunderte brasilianische Elendsviertel ein, um sie zu „befrieden“. Die internationalen Gäste sollten nicht abgeschreckt werden von Armut, Kriminalität und Drogenbanden. Wie nachhaltig ist diese Befriedung und wie gestaltet sich die soziale Realität in den brasilianischen Favelas heute? Zwei deutsche Journalistinnen starteten ein Crowdfundingprojekt, und berichten über Kreativität, Korruption, Potential und Zukunft der Favelas.


Nach der WM ist vor den Olympischen Sommerspielen: Die brasilianische Regierung setzte in einer beispiellosen Aktion Polizei und Militär ein, um vor den internationalen Großereignissen ihre Elendsviertel zu befrieden. Dabei wurden etwa 200 Favelas besetzt und die Drogengangs mit Gewalt verjagt. Die sogenannte Befriedungspolizei richtete unzählige Polizeistationen ein, Sport- und Bildungsangebote wurden zur Verfügung gestellt um ein friedliches Miteinander zu fördern. Julia Jaroschewski und Sonja Peteranderl, zwei Auslandsreporterinnen aus Deutschland, beobachten diesen komplexen und konfliktreichen Prozess. Sie wohnen seit 2011 immer wieder zeitweise in der Favela Rocinha, der größten Favela in Rio de Janeiro, und twittern und bloggen auf favelawatchblog.com. Aus ihren Langzeitbeobachtungen und den Stimmen der Menschen, die in den Favelas wohnen, wollen sie am Ende eine Multimediareportage erstellen. Dazu riefen sie das Projekt „Live aus der Favela“ ins Leben, das auf Startnext um Unterstützung wirbt. Derzeit sammeln sie für ein Flugticket zurück nach Brasilien, um die Ereignisse nach der Präsidentschaftswahl dokumentieren. Außerdem ist nach Abpfiff der WM der Krieg um die Favelas zwischen Polizei und Drogengangs erneut eskaliert.

Wende in Brasilien?

Journalismus für ein differenzierteres Bild der Realität

Eines der eigentlichen Ziele der Journalistinnen ist es, ein differenzierteres Bild der sozialen Realität in den Favelas zu zeichnen und Klischees und Stereotypen entgegenzutreten. „Viele denken bei Favelas nur an den Film “City of God”, an Drogengangs, brutale Gewalt, ständige Schießereien, korrupte Cops. Es gibt Brasilianer, die bis heute keinen Schritt in Favelas setzen würden“, so Julia Jaroschewski und Sonja Peteranderl. Andererseits gäbe es ausländische Touristen, die beim sogenannten Slumtourismus naiv durch die Favelas laufen und sich unvorsichtig und unsensibel dieser sozialen Welt nähern. Mit dem Beschreiben der Dynamik, die zwischen der von der Regierung verordneten Besetzungspolitik, organisierter Kriminalität und der Lebensgestaltung der Menschen entsteht, möchten sie ein wirklichkeitsnahes Bild des Geschehens darstellen. Deshalb leben sie selbst in der Favela, denn tiefergehendes Verständnis für einen Ort und die sozialen Prozesse, die sich dort abspielen, kann nur durch einen langen Aufenthalt und echtes Einlassen auf den Ort und seine Menschen entstehen.

Zukunftsstätte Favela

Dabei geht es sowohl um das Engagement der Bewohnerinnen und Bewohner, um gesellschaftlichen und politischen Widerstand, als auch um die große Kreativität und das Potential dieser oft zu Unrecht verrufenen urbanen Megazentren. Auch sie befinden sich ständig im Wandel und sind „Labore der Zukunft, in denen grundlegende Konflikte ausgehandelt werden“, so die Journalistinnen. Da durch den urbanen Wandel bereits mehr Menschen weltweit in Städten wohnen als auf dem Land, werden in den Favelas die großen Fragen und Herausforderungen des 21. Jahrhundert verhandelt: die Expansion der Megastädte in Zeiten der Globalisierung und urbanen Segregation, und die Organisation von Leben und Arbeit im informellen Sektor, wo der Staat einerseits versagt und andererseits im Namen von Fortschritt und Verbesserung willkürlich eingreift.