Während der Renaissance im 15. und 16. Jahrhundert rückt der Mensch als Individuum in den Mittelpunkt von Kultur und Wissenschaft; Reflexion über die eigene Erfahrung kommt in Mode und führt in Deutschland zu dem Brauch, neben den Familiendaten auch Glück- und Segenswünsche von Verwandten ins Stammbuch aufzunehmen. Diese Tradition greifen gegen Ende des Jahrhunderts Studenten auf, um Freunde, Gönner und Professoren zu verewigen. So entwickelt sich langsam ein unabhängiges Buch, dessen Zweck die Demonstration von gesellschaftlichem Ansehen, hohem Bildungsgrad und Beliebtheit ist. Schnell verbreitet sich das Widmungsbuch im gesamten Adel, denn viele der jungen Herren unternehmen zum Abschluss ihrer Ausbildung eine Kavalierstour. Auf diesen Reisen in die Kulturzentren Europas dienen Widmungsbücher als persönliche Referenz und Erinnerungsstütze.
Zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert spielt Ästhetik eine größere Rolle. Durch zunehmende weibliche Einflüsse sind nun aufwändige Stickereien oder gar Haarlocken-Geflechte in den Büchern zu finden. Liebevoll verzierte Malereien ergänzen die Sinnsprüche. Von Kindern geführte Poesiealben sind bis zum 20. Jahrhundert nur vereinzelt zu finden. In den 1950er Jahren wird jedoch der pädagogische Wert des Poesiealbums gelehrt, der in der freien Bild-Text Komposition sowie im Schönschreiben liegen soll.
So gelangt das Poesiealbum nach Jahrhunderte währender Tradition in Kinderhände. Der private Charakter und der hohe ideelle Wert für den Eigner machen das Poesiealbum jedoch heute zu einer wichtigen historischen Quelle für Literaturwissenschaftler und Historiker. Es sind subjektive Zeitenspiegel, die einst ganz ähnliche Funktionen erfüllten, wie heute die sozialen Netzwerke im Internet.