VON CLEMENS POKORNY | 24.02.2016 15:59

Schule der Zukunft? Über Tablets, Coaches und Kleingruppen

Stell dir eine Schule vor, in der alle mit Tablets arbeiten, in der jede Schülerin und jeder Schüler ganz individuell gefördert wird, in der sich die Lehrkräfte als Coaches verstehen und gemeinsam Kleinstgruppen ausschließlich in für das echte Leben relevanten Fächern unterrichten. Ein Traum von Bildung? Fest steht: Dergleichen wird (nach Ansicht des Autors dieser Zeilen: zum Glück) auch auf längere Sicht ein Traum bleiben.

Bildung ist eines der Lieblingsthemen der Medien. Nicht zufällig: Bis zu einem gewissen Grad betrifft sie jeden, und die ideologischen Rollen – vom konservativen Disziplin-Anhänger bis hin zur progressiven Alles-Umkremplerin – sind klar verteilt. Aber vor allem glauben viele Menschen, sich mit Schule und Co. auszukennen, schließlich haben sie selbst meist mehrere Bildungseinrichtungen besucht. Das ist in etwa so, als würde ich mich als Filmexperten bezeichnen, nur weil ich jahr(zehnt)elang schon regelmäßig fernsehe und ab und an ins Kino gehe (was wohl auf die meisten Menschen in Deutschland zutrifft).

Doch dass sie normalerweise weder eine theoretische noch eine praktische Ausbildung in Pädagogik genossen haben, hält insbesondere viele Eltern nicht davon ab, sich als „Bildungsexperten“ zu gerieren. Eine Realschullehrerin berichtete kürzlich in der Süddeutschen Zeitung, Eltern hätten ihr die Schuld daran gegeben, dass ihr Kind öfters die Hausaufgaben (!) nicht macht. Ein Elternvertreter forderte gar deren Abschaffung: Hausaufgaben seien Hausfriedensbruch (!). Und in Baden-Württemberg versuchte unlängst eine Mutter, ihr schwer geistig behindertes Kind aufs Gymnasium zu bringen. Dass das an Morbus Down erkrankte und bereits in der Regel-Grundschule überforderte Kind für diese Schulart eventuell nicht geeignet sein könnte, focht sie nicht an: Ihr Sohn solle nicht von seinen Klassenkameraden getrennt werden, und außerdem gebiete eine Konvention der Vereinten Nationen die Inklusion behinderter Kinder (was man auch immer drunter versteht). Journalisten wie zum Beispiel Christian Füller, Studiengebühren-Befürworter und selbsternannter „Pisaversteher“, recherchieren wenigstens meistens sauber, bevor sie sich zum Thema Schule äußern.

Durch die fortschreitende Digitalisierung vieler Lebensbereiche nimmt auch die Schuldebatte wieder an Fahrt auf. Unter dem Schlagwort „Schule der Zukunft“ fordern Publizisten, Hirnforscher und auch einzelne Lehrkräfte die Digitalisierung des Lehrens und Lernens. Im Paket dazu werden meist auch mehr individuelle Förderung, strukturell flexiblerer Unterricht, Ganztagsschulen, kleine Klassen, mehrere Pädagogen pro Lerneinheit sowie eine stärkere Vernetzung der Bildungseinrichtungen untereinander verlangt. Das sind zunächst einmal schon allein finanziell völlig unrealistische Wunschzettel: Solange sich die Wählerinnen und Wähler von Sonntagsreden einlullen lassen, in denen Politiker die Bildung als einzige nennenswerte Ressource unseres Landes priorisieren, dieser Erkenntnis aber keine Taten folgen lassen, werden die Bildungsausgaben auf niedrigem Niveau stagnieren. Damit bleiben Tablets im Klassenzimmer ein (nicht unumstrittenes) Privileg der expandierenden Privatschulen, die erstens paradoxerweise zugleich nicht einmal unbedingt die besseren Lehrkräfte beschäftigen – diese nehmen nämlich eher die sicheren und besser bezahlten verbeamteten Stellen an öffentlichen Schulen – und zweitens das Zwei-Klassen-System in unserer Bildungslandschaft etablieren, wie es vor allem aus den USA hinlänglich bekannt ist. Mehr soziale Ungleichheit, die hierzulande laut OECD ohnehin überdurchschnittlich stark ausgeprägt ist, ist eine direkte Folge der zunehmenden Privatisierung der Bildung.

Egoismus oder Gemeinschaftssinn – Erschaffen wir das System, oder erschafft das System uns?

Außerdem fällt an den Statements der vermeintlichen Experten auf, dass sie meist einen bunten Strauß an Forderungen präsentieren, die auf den ersten Blick keinen inneren Zusammenhang besitzen. Was haben etwa Ganztagsschulen mit Tablets im Klassenzimmer zu tun? Und wie kommen die Autoren überhaupt gerade auf diese und nicht ganz andere Ideen? Der Philosoph Christoph Türcke führt sie gleichsam auf ihre materielle Basis zurück, nämlich auf die veränderte Arbeitswelt. Outsourcing, Deregulierung, Flexibilisierung und Privatisierung sind dort teilweise schon selbstverständlich und insofern ist es nur konsequent, diese Prinzipien auf die Schule zu übertragen. In der neoliberalen Wirtschaft werden Sicherheit und materielle Versorgung für eine diffuse Freiheit zunehmend aufgegeben. Wenn analog die Individualität jeder Schülerin und jedes Schülers in den Mittelpunkt der Schulbildung gerückt wird, wenn Lehrkräfte zu Coaches degradiert werden sollen, wenn man sich in „Lernumgebungen“ primär Soft Skills aneignen soll statt messbarer Kompetenzen, werden die meisten Lernenden überfordert – oder das Niveau in unseren Bildungsanstalten sinkt mittelfristig noch weiter.

Ob so die Schule der Zukunft aussehen soll, darüber wird gegenwärtig leider kaum gesprochen. Über Fortschritte im Bildungswesen entscheiden aber nach wie vor sowieso eher andere Mechanismen als der öffentliche Diskurs: einerseits der Erfolg von Schulversuchen an Pilotschulen, der oft schon von vornherein, nämlich mit der Versuchsanordnung, besiegelt oder vereitelt ist, andererseits – und vor allem – die Weltanschauung der jeweiligen Entscheidungsträger in der Politik. Die Flüchtlingszahlen dürften übrigens tendenziell dafür sorgen, dass zusätzliche Gelder primär in die Integration von Nicht-Muttersprachlern fließen und nicht für Wunschträume wie Tablets für alle Schüler ausgegeben werden. Durch die Erfolge der AfD haben wir derzeit zudem vermehrt mit Großen Koalitionen in den Ländern zu rechnen. Und diese sind nicht gerade als Motoren von wie auch immer gearteten Veränderungen, sondern eher als Verwalter des Bestehenden bekannt. Die Schule der Zukunft, egal wie sie sich gestaltet, dürfte daher vorerst in einiger Ferne bleiben.