VON CLEMENS POKORNY | 12.02.2016 14:58

Sackgasse Lehrauftrag oder das Prekariat der Promovierten

Das Problem ist lange bekannt, ebenso wie seine Ursachen und mögliche Lösungen: Immer mehr Lehrbeauftragte unterrichten an deutschen Hochschulen, doch ihre Arbeitsbedingungen bleiben miserabel. Für Hungerlöhne, nicht versichert und befristet schuften sie aus Idealismus und in der Hoffnung auf einen der wenigen sicheren Arbeitsplätze in der Wissenschaft. Die Mehrheit bekommt keinen – und ist dann mit Anfang Vierzig zu alt für den normalen Arbeitsmarkt.

Stell' dir vor, du musst mit Ende Dreißig, Anfang Vierzig die Branche wechseln. In welchem Bereich würdest du wohl noch einen Arbeitsplatz finden? Richtig, es gäbe kaum einen. Du würdest dich mit 450-Euro-Jobs über Wasser halten, vielleicht Taxi fahren gehen oder im Callcenter arbeiten. Ohne Aussicht auf einen nennenswerten Aufstieg, dafür mit der traurigen Gewissheit, arm sterben zu werden. Undenkbar? Es gibt eine Branche, in der Karrieren schon um die 40 öfters im Prekariat enden. Die Rede ist nicht von unterbezahlten Leistungssportlern, freiberuflichen Musikern oder Künstlern. Es geht ironischerweise um die gebildetsten Akademiker überhaupt – die Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler.

Ihr Weg in die Überqualifikation fängt oft verheißungsvoll an. Im Studium glänzend, ein Jahr im Ausland verbracht. Auf den sehr guten Studienabschluss folgt die Stelle als wissenschaftlicher Assistent, man ist gleichsam die rechte Hand des Lehrstuhlinhabers und auf dem besten Weg, selbst eine(r) zu werden – oder? Zu diesem Zeitpunkt haben nicht wenige schon einiges investiert, zum Beispiel die Uni gewechselt, um eine Assistentenstelle antreten zu können. Da endet meist eine „Lebensabschnittspartnerschaft“. Und auch während der Promotion leiden mögliche Beziehungen unter der hohen Arbeitsbelastung. Auf den Doktortitel folgen dann mehrere Forschungs- und Lehrtätigkeiten. Doch schon nicht jeder Promovierte mit höheren Ambitionen erhält die Gelegenheit zur Habilitation. Und von denjenigen, die den vorletzten Schritt hin zur Professur und damit zu einer der wenigen sicheren Stellen in der Wissenschaft machen, schaffen es nur 30% auf einen Lehrstuhl oder wenigstens eine außerplanmäßige Professur. Die wenigen Beamtenposten ohne Professorentitel („Akademische Rätin“ o.ä.) sind ähnlich rar und bessern die schlechten Aussichten kaum auf.

Promovieren – Sinnvoll oder nicht?

A propos Statistik: Wer glaubt, beim Doktorproletariat handele es sich um ein vernachlässigbares Randphänomen, irrt. Seit der Jahrtausendwende ist die Zahl der Lehrbeauftragten an deutschen Hochschulen laut Statistischem Bundesamt um 40% gestiegen, während die Anzahl der Professuren fast stagnierte. Die immer höheren Studierendenzahlen verlangen natürlich nach mehr Lehrenden, und die wenig Ehre verheißende Lehre wälzten die Professoren schon immer gerne auf niederes Personal ab. Die Universitäten machten und machen da mit, schließlich sind Lehrbeauftragte die billigsten Arbeitskräfte in der akademischen Welt. Berechnet man ihre Vor- und Nachbereitungszeit sowie die für die Korrektur und Besprechung von Seminararbeiten aufgewandten Stunden mit ein, kommen Lehrbeauftragte auf Hungerlöhne von zwei bis fünf Euro pro Stunde. Und davon müssen sie noch Beiträge zur Sozial-, Kranken- und Rentenversicherung abführen. Das alles bei miesen Jobaussichten – wer tut sich das an?

Es sind junge Idealisten, die um der hehren Wissenschaft willen jahrelang auf Kinder, zuweilen gar auf einen festen Partner verzichten. Getrieben vom Ehrgeiz und der Aussicht auf die angesehene Institution Professur, selbstbewusst durch ihre bis dato erzielten Erfolge, glauben sie immer wieder, es bis ganz nach oben schaffen zu können. Doch wie jeder Wettbewerb produziert auch die akademische Karriere Verlierer – mehrheitlich sogar. Anders als in anderen Branchen bedeutet hier eine Niederlage oft das Ausscheiden aus der Wissenschaft – es geht um alles oder nichts. Selber schuld? Aber ohne die Lehrbeauftragten gäbe es weite Teile der universitären Lehre überhaupt nicht! Die Hochschulen sind also auf sie angewiesen. Doch solange es genügend durch Idealismus und Ehrgeiz motivierte junge Menschen in die Wissenschaft zieht, werden die Universitäten an ihrer fatalen Personalpolitik nichts ändern. Dabei würden schon mäßige Etataufstockungen die Einkommenssituation der Lehrbeauftragten verbessern, zum Beispiel durch Ausweitung der Teilzeitstellen. Der akademische Nachwuchs selbst wiederum ist nicht in der Lage, gegen seine Be- oder vielmehr Misshandlung aufzubegehren. Er braucht das Wohlwollen der Lehrstuhlinhaber; er steht unter dem Druck, ständig publizieren und sich im Gespräch halten zu müssen; zu diesem Zweck wird er weiterhin jede auch noch so alberne wissenschaftliche Mode seines Fachbereichs mitmachen. Wo bleibt da noch die Zeit, für seine Belange einzutreten? Zumal in Gemeinschaft mit Kolleginnen und Kollegen, die zugleich Konkurrentinnen und Konkurrenten sind und unter denen es als Tabubruch gilt, die Ausbeutung des akademischen Mittelbaus öffentlich anzuprangern?

Wer noch nicht in der Sackgasse „Lehrauftrag“ feststeckt, dem sei daher von einer wissenschaftlichen Karriere dringend abgeraten. Zumindest in Deutschland – in den angelsächsischen Ländern etwa winkt zwar keine Verbeamtung, aber die Hochschulen sind finanziell oft deutlich besser ausgestattet als ihre Schwestern in Deutschland und beschäftigen deshalb meist mehr akademisches Personal und zwar zu besseren Konditionen. Während man sich in Deutschland aus der akademischen Naturwissenschaft oft noch rechtzeitig auf gute Posten in der Wirtschaft abseilen kann, sollte man als Geistes- oder Sozialwissenschaftler auf Lehramt studiert haben, um nach einem wissenschaftlichen Karriereknick noch in die Schule wechseln zu können.