VON LISi WASMER
|
02.05.2013 12:09
Anarchie. Alles kann, nichts muss
Wenn in der medialen Berichterstattung von Anarchie gesprochen wird, passiert dies meist in Assoziation mit eher negativ besetzten Konnotationen. Chaos oder Aufruhr sind Begriffe, die oft in einem Atemzug mit Anarchie genannt werden. Aber was bedeutet der Begriff tatsächlich? Welches Potential verbirgt sich dahinter und welche Grenzen sind der Anarchie gesetzt?
Das Streben nach Selbstbestimmung gehört zu den fundamentalsten des Menschen. Die Umsetzung polarisiert hingegen: Die einen fordern Anarchie als Freiheitsschlag gegen staatliche Unterdrückung, die anderen fürchten Chaos und eine soziale Spaltung in Starke und Schwache. Dabei liegt der Grund für die verhärteten Fronten nicht selten schlicht in der Obskurität des Begriffs. Immer wieder begegnen wir im Alltag solchen Konzepten, adaptieren sie vielleicht und verwenden sie, ohne uns ihrer tatsächlichen Bedeutung bewusst zu sein. So wird auch die Anarchie häufig missverstanden, ihre Chancen nicht gesehen, ihre Grenzen nicht offengelegt.
Der schlechte Ruf der Anarchie
Oder so: Ich gründe eine Partei!
Wer wie die Piraten mit einer neuen Partei Politik machen will, muss viel Arbeit investieren und hohe rechtliche Hürden nehmen. UNI.DE zeigt wie's geht
[...]»
Die Verwirrung um den
Begriff beruht auf der Ungenauigkeit seiner Verwendung im Sprachgebrauch. So kann Anarchie durchaus mit etwa politischem, gesellschaftlichem oder wirtschaftlichem Chaos assoziiert werden. Andererseits bedeutet Anarchie etymologisch betrachtet nicht mehr und nicht weniger als ein Zustand der Herrschaftslosigkeit.
Dass ihr dennoch schnell einen negative, wenn nicht gar bedrohliche Bedeutung beigemessen wird, liegt an der unklaren Abgrenzung der Begrifflichkeiten. Unterschieden werden muss etwa zwischen Anarchie und Anarchismus, einer politischen Ideenlehre, welche eine Übertragung des anarchischen Grundgedankens auf die politische und soziale Gemeinschaft beinhaltet. Eine weitere wichtige Abgrenzung ist die der Anarchie von der Anomie, also der Gesetzlosigkeit. Gerade diese Differenzierung wird häufig untergraben, wie zum Beispiel auch von der
Bundeszentrale für politische Bildung.
Was ist Anarchismus?
Was also bedeutet eine Umsetzung des anarchischen Gedankens in Form des
Anarchismus? Zunächst muss festgehalten werden, dass Anarchismus in großem Maße pluralistisch geprägt ist, es also eine Vielzahl unterschiedlicher Strömungen gibt, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann. Vordergründig geht es jedoch um das Aufbrechen aller existierenden Hierarchien. Entgegen weit verbreiteter Annahmen bedeutet dies aber eben nicht das Fehlen jeglicher gesellschaftlicher Regeln. Die Grundidee liegt viel mehr im Verzicht auf Herrschaftsverhältnisse jeder Art. So gibt es weder politische noch religiöse Führer, trotzdem ist die Gesellschaft strukturiert: In der Theorie geht man von föderalen Zusammenschlüssen in einzelne Gemeinschaften aus, welche nach dem Prinzip der kollektiven Selbstverwaltung nebeneinander bestehen würden.
Gemäß dem wirtschaftlichen Selbstverständnis des Anarchismus stehen diese Gemeinschaften in liberal-sozialistischen Wirtschaftsbeziehungen zueinander. Das heißt, sie gehen Tauschgeschäfte ein, welche – anders als etwa im Fall von Kapitalismus – von der nicht-hierarchischen föderalen Vernetzung der einzelnen Handelspartner geregelt werden.
Bleibt die Frage, wie in so einem System mit imperialistischen Bewegungen umgegangen werden würde. Auch hier wird auf die Stärke der Vernetzung der Zusammenschlüsse untereinander hingewiesen: Wenn etwa eine Gemeinschaft versucht, sich anderer Kollektive zu bemächtigen, so wird davon ausgegangen, dass die übrigen Gemeinschaften Druck auf diesen imperialistischen Zusammenschluss ausüben und seine Bestrebungen nach Hegemonie unterbinden würden.
Anarchismus: Eine Utopie?
Soweit die Theorie. Bleibt die Frage nach der Umsetzbarkeit einer derart gestalteten Gesellschaftsstruktur. Wie so vieles, was mit Anarchismus zu tun hat, gibt es auch hier viel Raum für Meinungsverschiedenheiten.
Wie bereits erwähnt fürchten viele soziale, politische oder wirtschaftliche Unordnung als Konsequenz der Anarchie oder des Anarchismus. Ein Standpunkt, der ebenfalls gerne vertreten wird, ist der, dass Anarchismus deshalb nicht umsetzbar sei, weil die Mitglieder der Gesellschaft verlernt hätten, ohne eine Regelung durch Gesetze oder Normen auszukommen. Andererseits gibt es geschichtliche Epochen, in denen scheinbar deutlich wurde, dass Anarchismus „funktionieren kann“: So kontrollierte die Nationale Arbeiterkonföderation (CNT) während des spanischen Bürgerkriegs 1936-1939 zahlreiche Provinzen im Osten Spaniens, bis
Franco 1939 endgültig die Landesführung übernahm. Verfechter des Anarchismus sehen hierin häufig den Beweis, dass die von ihnen propagierte Gesellschaftsform durchaus zu verwirklichen wäre. Andere sehen Francos Diktatur als logische Konsequenz der anarchistischen Bewegungen und fühlen wiederum ihren Argwohn gegen diese Strömungen bestätigt. Somit bleibt es dabei: Potential und Grenzen von Anarchie und Anarchismus werden auch in Zukunft Stoff für reichlich Diskussionen bieten.