VON CLEMENS POKORNY | 27.12.2013 15:26

Wikis: Die Macht der Schwarmintelligenz

Mit dem Online-Lexikon Wikipedia wurde eine freie Software populär, die auch jenseits der Enzyklopädie eingesetzt wird und so etwa in Vereinen und Unternehmen Kommunikations- und Arbeitsprozesse erleichtert und beschleunigt. Die sogenannten Wikis bilden damit die technische Grundlage von Projekten, die oftmals dem Gemeinwohl dienen. Sie unterstützen flache Hierarchien und größtmögliche Transparenz. Ihre Vorteile überwiegen letztlich alle Nachteile deutlich, wie insbesondere am Beispiel der Wikipedia deutlich wird.

Unmittelbar bevor im Februar 2009 ein gewisser Salamitaktiker zum Bundesverteidigungsminister ernannt wurde, fügte ein anonymer User in die lange Liste von Vornamen in dessen Wikipedia-Artikel einen weiteren, nämlich „Wilhelm“, ein, um zu prüfen, ob die mediale Öffentlichkeit es bemerken würde. Sie merkte es nicht. Etliche große Zeitungen druckten die Vornamen in Gänze unkritisch ab, und die Presse diente ihrerseits als zuverlässige Quelle für die Authentizität des Namens, als erste Wikipedianer misstrauisch geworden waren und den „Wilhelm“ aus dem Artikel entfernt hatten. Der Vorfall zeigt zweierlei: Einerseits birgt das Prinzip der voraussetzungslosen Partizipation an der größten Online-Enzyklopädie die Gefahr, dass falsche Informationen oder gar absichtliche Falschdarstellungen nicht oder nicht sofort entdeckt werden und Gefahr laufen, vielfach repliziert zu werden. Aber andererseits kommen immer mehr gesellschaftliche Akteure nicht mehr ohne das größte und konsequent demokratische Projekt zum Aufbau eines kostenlosen und Allen offenstehenden Online-Lexikons aus.

Stabilität durch Vielfalt

Als die englischsprachige Wikipedia am 15. Januar 2001 gegründet wurde, ahnte noch niemand, dass das Projekt die Welt verändern würde. Bereits zwei Monate später jedoch wurden Ableger in anderen Sprachen gegründet, und Ende 2001 gab es die „Wikipedia“ bereits in 18 Sprachen. Mittlerweile sind es über 280, darunter auch Dialekte und „tote Sprachen“ wie Latein und Altgriechisch, und insgesamt rund 30 Millionen Artikel. Nach wie vor verzichtet Wikipedia vollständig auf Werbung und finanziert sich ausschließlich über Spenden, um von privatwirtschaftlichen wie staatlichen Interessen unabhängig zu bleiben. Und noch immer schreiben alle Autoren freiwillig und unentgeltlich, motiviert von internen Wettbewerben um den besten neuen Artikel oder die beste Überarbeitung eines Artikels sowie von der Aussicht darauf, für ein Millionenpublikum zu publizieren. Die Qualität der Beiträge wird gerade im Falle der deutschsprachigen Ausgabe nicht bestritten: Schon 2004 sahen sowohl das Computermagazin c't als auch die Wochenzeitung „Die Zeit“ die Wikipedia in puncto Qualität vor ihren digitalen kommerziellen Konkurrenten von Microsoft und Brockhaus. Kein Wunder, schreiben doch vorwiegend Studenten und auch einige Wissenschaftler mit. Vandalismus wird u.a. mit „Bots“ bekämpft, also Computerprogrammen, die anstelle von „echten“ Benutzern etwa Fäkalwörter unmittelbar nach deren Einfügung in einen Artikel wieder entfernen. Auch eine Eingangskontrolle sorgt dafür, dass jede neue Änderung, die jedem Internetbenutzer auf fast jeder Seite auch ohne Anmeldung möglich ist, sichtbar wird und überprüft werden kann. Offensichtliche Fehler, seien sie versehentlich oder absichtlich, werden so meist innerhalb von wenigen Sekunden korrigiert. Bei aller berechtigten Kritik an der Wikipedia kann ihr mangelnde Zuverlässigkeit der Inhalte also kaum vorgeworfen werden – und wer einen Fehler findet, ist aufgerufen, ihn selbst zu beseitigen.

Der Erfolg der Site, die mittlerweile auf dem 6. Platz der weltweit am häufigsten aufgerufenen Websites steht, beruht wesentlich auf einer Software, die demokratische Partizipation, Vernetzung der Artikel mittels Querverweisen und Überprüfung durch Aufzeichnung einer „Versionsgeschichte“ erst ermöglicht. „Wikis“ (hawaiiansch für „schnell“) erlauben eine Bearbeitung ihrer Inhalte direkt im Webbrowser. Als „MediaWiki“ wurde die Software den Wikipedia-Bedingungen angepasst und als Open-Source-Projekt weiterentwickelt. Heute nutzen viele Unternehmen und soziale Gruppen Wikis, zum Beispiel Fachschaften an Hochschulen. So werden die Kommunikation erleichtert und Entwicklungsprozesse beschleunigt. Phantasievoll setzt etwa die „Gesellschaft zur Stärkung der Verben“ ihr Wiki ein, in dem nicht nur geschwächten Verben wieder auf die Beine geholfen wird (z.B. „gesandt“ statt des falschen „gesendet“), sondern auch regelmäßig schwache Verben gestärkt werden (z.B. „ändern“: „ich ändere, ich arnd, ich habe geornden“). So wird der Eindruck deutschtümelnden Sprachpurismus vermieden und dabei haben die Grammatik-Nerds auch noch ihren Spaß.

Letzteres gilt auch für die Wikipedia-Autoren (88% männlich, 50% Singles, Durchschnittsalter 33 Jahre). Doch von ihrer oft wissenschaftlich betriebenen Recherche und der Schwarmintelligenz der Online-Enzyklopädie profitieren, anders als von reinen Spaßprojekten, Milliarden Menschen. Wikis im Allgemeinen befördern zweifellos Wissen als Ressource des 21. Jahrhunderts, indem sie es nicht nur speichern, sondern dauerhaft zur Diskussion stellen und weiterentwickeln lassen. Insbesondere die Wikipedia befördert damit den Aufklärungsgedanken des Fortschritts durch Bildung. Die sprichwörtliche Macht des Wissens bleibt dabei zwar ambivalent, doch die Vorteile der Wikipedia wie des Wiki-Prinzips überhaupt überwiegen alle Risiken eindeutig.