VON CLEMENS POKORNY | 23.09.2013 15:11

Medienmacht und Mehrheiten

Den Ausgang der Bundestagswahl haben die Medien mehr oder minder stark beeinflusst. Damit setzt sich ein Trend der vergangenen ca. drei Jahrzehnte fort. Eine besonders große, aber auch fragwürdige Rolle spielte dabei die BILD-Zeitung. Wie beeinflussen Medien eigentlich die Meinungsbildung? Wie sieht verantwortungsvolle politische Berichterstattung aus? Und welche Gefahren können aus der Medienmacht erwachsen?

Die Bundestagswahl ist vorbei, und dass Angela Merkel Kanzlerin bleiben würde, war wohl auch den optimistischsten ihrer politischen Gegner schon vorher klar. Neben den vergleichsweise guten Wirtschaftsdaten der Bundesrepublik konnten die Meinungsforscher bereits im Vorfeld der Wahl einen weiteren, womöglich für viele Wähler entscheidenden Grund für die seit Monaten guten Umfragewerte der Unionsparteien identifizieren: den "Angie-Faktor". Ob man nun "Mutti" als die "die Beste" oder eher als "die Bestie" ansieht: Die Personalisierung des Wahlkampfes von Seiten der CDU/CSU verfing. Doch das lag nicht nur an den Wahlkampfstrategien der Parteien. Welche Rolle spielen eigentlich die Medien im Wahlkampf?

Investigativer Journalismus

Das gleichzeitige Auftreten von hoher medialer Aufmerksamkeit und guten Umfragewerten oder Wahlergebnissen ist so offensichtlich, dass es auch dem politik- oder medienwissenschaftlichen Laien schwerfällt, keine kausalen Wechselwirkungen anzunehmen. 2007 wurde DIE LINKE aus der Fusion von PDS und WASG gegründet, begleitet von anhaltender extensiver Berichterstattung. Sie schaffte es auf Anhieb in mehrere deutsche Landesparlamente und noch 2009 mit einem Ergebnis in den Bundestag, das dasjenige der Grünen deutlich übertraf. Seither musste die Partei aus mehreren westdeutschen Parlamenten wieder ausziehen, zog aber 2013 wieder in den Bundestag ein. Das Medieninteresse war da längst abgeflaut, obwohl – oder gerade weil? – die Partei sich nicht als Eintagsfliege erwies. Nach der LINKEN fanden die Medien in der Piratenpartei ein neues Objekt ihres Interesses – hier wiederholte sich das Spiel von raschen Erfolgen und ebenso schnellem Abstieg. Die AfD schließlich konnte 2013 in atemberaubendem Tempo bundesweit Strukturen aufbauen und mit einem vergleichsweise winzigen Etat einen Wahlkampf führen, der sie beinahe in den Bundestag gebracht hätte. Wäre dieser Erfolg ohne intensive mediale Begleitung im Vorfeld möglich gewesen? Und auch die Rolle von Meinungsumfragen dürfte in der Bevölkerung eher unterschätzt werden. Sind sie bloß Abbildungen von Stimmungen oder beeinflusst ihre mediale Verbreitung nicht auch das Stimmverhalten des Bürgers im Wahllokal? Der AfD-Spitzenkandidat Bernd Lucke nahm wohl Letzteres an, als er den Demoskopen von Forsa kurz vor der Wahl unterstellte, sie prognostizierten für seine Partei absichtlich ein schlechteres Abschneiden als aus ihren Rohdaten hervorginge.

Dass sich Zeitungen wie Boulevardblätter auf die Seite einer Partei, einer möglichen Koalition oder eines der beiden politischen Lager schlagen und diese(s) durch entsprechende Themenselektion unterstützen, betrifft alle Arten und Größenordnungen von Medien: von der Lokalgazette über den erfolgreichen Politblog bis hin zur überregionalen, seriösen Tageszeitung und zum Boulevard. Im Sinne der Meinungsfreiheit ist dagegen prinzipiell nichts einzuwenden. Qualitative Mindeststandards liegen in Sachlichkeit und Fairness im Umgang mit den Argumenten der Gegenseite. Die Verantwortung der Medien wächst mit ihrer Verbreitung. Doch ausgerechnet das auflagenstärkste Blatt der Bundesrepublik kommt ihr in ungenügendem Maße nach.

Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der zur IG Metall gehörenden Otto-Brenner-Stiftung. Die Autoren Wolfgang Storz (ehemaliger Chefredakteur der Frankfurter Rundschau) und Hans-Jürgen Arlt (Publizist) haben nicht zum ersten Mal die politische Ausrichtung der Berichterstattung in Deutschland untersucht. Zwischen 15. Juni und 8. September 2013 werteten sie 416 BILD-Artikel wissenschaftlich aus. Ihre Zwischenbilanz, prägnant zusammengefasst: BILD hilft nicht bei der eigenständigen Meinungsbildung, sondern bildet Meinungen – und macht damit selbst Politik. Im Wahlkampf konzentrierte sich die "Zeitung", in der Politik freilich insgesamt betrachtet nur Nebensache ist, auf die vermeintlichen "Stars" Merkel und Steinbrück. Die Kanzlerin wurde fast täglich nahezu rein positiv dargestellt, ihr ärgster Herausforderer dagegen vor allem mit diversen Fettnäpfchen jenseits der eigentlichen Politik in Verbindung gebracht. Bei den Inhalten spielt BILD sich als Volkstribun auf, ermahnt (!) die Bundeskanzlerin bei allem Lob, sich für dieses oder jenes Thema mehr einzusetzen, und erklärt seinen Lesern, was getan werden müsste. Schon Monate vor der Wahl hat sich das Medium auf das Ziel einer großen Koalition und gegen einen Lagerwahlkampf festgelegt sowie etwa die Grünen systematisch schlechtgeschrieben. Kein Wunder, dass die mutmaßlichen Käufer des Blattes besonders häufig CDU bzw. CSU wählen – nicht zum ersten Mal galt bei der Bundestagswahl: Je niedriger der (Schul-, Uni-)Abschluss eines Wählers, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass er schwarz wählt. Zusammen mit den regelmäßigen BILD-Konsumenten waren übrigens einen Tag vor der Wahl auch die 41 Millionen größtenteils unfreiwilligen Empfänger der kostenlosen, tendenziösen "Wahl-BILD" einem massiven Beeinflussungsversuch ausgesetzt.

Insgesamt betrachtet bestätigt sich im Jahr 2013, was der Publizist Albrecht Müller in seiner Studie "Von der Parteiendemokratie zur Mediendemokratie" schon für die Bundestagswahl 1998 im Vergleich zu früheren Urnengängen herausfand: Die Medien bestimmen die politische Meinungsbildung mit ihren Interessen respektive denen der hinter ihnen stehenden Verlagshäuser und Anzeigenkunden entscheidend mit. Das ist selbst bei einem verantwortungsvollen Umgang mit ihrer Macht bedauerlich, weil die Medien mit der gestiegenen "Geschwindigkeit des Denkens" (Müller), die der modernen Kommunikationsgesellschaft zu eigen ist, zu einer Verflachung und Verkürzung politischer Diskussionen und damit auch zu schlechteren politischen Entscheidungen beitragen. Das beginnt schon bei den Bürgern, die in Umfragen Stellung zu Aussagen beziehen sollen, deren qualifizierte und differenzierte Beurteilung weit überdurchschnittliche politische Kenntnisse voraussetzt (Bsp.: "Kandidat X hat in der Eurokrise richtig gehandelt."). Wer aber wie Spitzenpolitiker zu allem eine Meinung äußern muss, ohne wirklich Ahnung zu haben, wird allzu leicht zur Selbstüberschätzung neigen – auch hier ist Verflachung des politischen Denkens die Folge. Die Untersuchung der Rolle des Spindoctoring im Wahlkampf 2013 schließlich, also der Lancierung entscheidender Botschaften in den Medien während des Wahlkampfes von grauen Eminenzen der Parteien, ein aus den USA schon vor längerem zu uns eingeschlepptes Phänomen, wäre sicherlich ebenfalls ein lohnendes Forschungsgebiet.