VON SINEM S. | 22.02.2012 14:28

Sind wir wirklich so hilfsbereit wie wir glauben?

Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft und Co. Wir leben in einer Gesellschaft, in der regelmäßig große Summen gespendet werden, die Medienlandschaft ist übersät mit Aufrufen zu Hilfsaktionen, die an unsere Bereitschaft appellieren, den Geldbeutel zu zücken, pünktlich zu Weihnachten werden uns regelmäßig mitleiderregende Geschichten über Familien geliefert, die sich keine Geschenke leisten können. Alles in allem hat man den Eindruck, die Deutschen seien ein sehr hilfsbereites Volk, das seinem Nächsten sehr nah steht. Doch wie sieht die Wirklichkeit im Alltag aus?

Schauplatz Münchner U-Bahn. Eine schwangere Frau steht inmitten anderer Fahrgäste und blickt sich suchend nach einem freien Sitzplatz um. Um sie herum sind Menschen jeglichen Alters, manche dösen vor sich hin, andere vertiefen sich angestrengt in ihre Lektüre. Die Frau schnauft sichtlich erschöpft und traut sich nicht, die Passagiere anzusprechen. Bis sich eine ältere Dame schwerfällig aus ihrem Sitz hebt und der werdenden Mutter ihren Platz anbietet. Nun ist dies den anderen aber sichtlich unangenehm, und weitere Gäste stehen wie von der Tarantel gestochen auf. Wie kann man sich dies erklären? Und warum muss einer (in diesem Fall sogar jemand, der selber dringend auf den Platz /die Hilfsbedürftigkeit anderer angewiesen ist) erst den Anfang machen, bevor es ihm die anderen gleichtun?

Stichwort „Pluralistische Ignoranz“. Wenn eine Person sich in einer Situation befindet, die nicht auf Anhieb zu beurteilen ist und sie erst mal nicht weiß, was zu tun ist, orientiert sie sich zunächst an den anderen, sofern diese auch agieren. Handeln jene aber auch nicht, entsteht Pluralistische Ignoranz. Da sich niemand wirklich verantwortlich fühlt, kann dies in Notsituationen fatale Folgen haben. Die Anwesenden schaffen es nicht, sich aus der Passivität zu lösen und warten auf den ersten Schritt (vgl. E. Aronson, T. D. Wilson, R. M. Akert: Sozialpsychologie. Pearson Studium. 6. Auflage 2008).

Soweit so gut. Im Falle der schwangeren Dame ist dies wohl nun sicherlich kein Beinbruch, was aber, wenn es sich tatsächlich um eine Notsituation handelt, in der jemand bedrängt wird, oder gar angegriffen? Der Fall Dominik Brunner hat uns gezeigt, dass Hilfsbereitschaft manchmal auch fatale Folgen haben kann. Allzu verständlich, wenn sich niemand direkt in eine eskalierende Situation einmischen mag oder kann. Trotzdem muss man nicht passiv bleiben, dazu rät der Verein für Friedenspädagogik Tübingen e.V., man/frau kann sich auch in solchen Situation adäquat verhalten, sei es, dass umstehende Zeugen direkt um Hilfe angesprochen werden, oder auch „nur“ die Polizei informiert wird.

Auch im Alltag lohnt es sich wohl, ein Muster an Hilfsbereitschaft zu sein, da dies andere nachweislich ansteckt. Dies fanden US-Forscher im Rahmen eines Experimentes heraus, in denen die Probanden ihre Hilfsbereitschaft mit Geld unter Beweis stellen konnten. Die Ergebnisse sind eindeutig: Ähnlich wie Glück oder Einsamkeit steckt auch diese Tugend an und verbreitet sich wie ein Domino-Effekt. Auf Dauer ist es für eine Gruppe sogar nützlicher, kooperatives Verhalten an den Tag zu legen, da dies die Gruppe stärkt und ihr Fortbestehen fördert. Vielleicht ist es schon einmal ein Anfang, seine eigene Hilfsbereitschaft in weniger schweren Fällen im Alltag hin und wieder zu demonstrieren, ob man sich nun aus seiner eigenen Bequemlichkeit löst oder auch den Blick schärft für Situationen, in denen beherztes Eigreifen sinnvoll erscheint.