VON CLEMENS POKORNY | 01.03.2016 16:42

Keine strahlende Siegerin: Die Geschichte der Kernenergie in Deutschland

Wenn in einigen Jahren die letzten Atomkraftwerke in Deutschland geschlossen werden, wird die Kernenergie bei uns eine über 60-jährige Geschichte hinter sich haben. Von Anfang an war sie überflüssig und wurde zunächst von wenigen skeptischen Menschen, dann von immer breiteren Bevölkerungsschichten abgelehnt. Der Staat versuchte lange Zeit, die Risikotechnologie mit brutaler Polizeigewalt gegen seine Bürgerinnen und Bürger durchzusetzen.

Sie sind schon lange kein Zankapfel mehr: 2022 werden die letzten Atomkraftwerke (AKW) in Deutschland vom Netz gehen. Bevölkerung und Parteien stehen gleichermaßen hinter dem im Jahr 2000 beschlossenen Atomausstieg. 2022 wird das Kapitel Kernkraft in Deutschland aber leider noch lange nicht zu Ende sein. Rückblickend stellt sich die friedliche Nutzung der Kernenergie von Anfang an als Desaster dar.

Die 1930er- und 1940er-Jahre bringen die Forschung an Kernreaktionen entscheidend voran – leider diente sie auch kriegerischen Zwecken (Hiroshima). Die zivile Nutzung der Kernenergie erreicht 1951 einen ersten Höhepunkt, als in den USA erstmals ein AKW Strom erzeugte. 1955 wird Franz Josef Strauß in Deutschland erster Minister für Atomfragen. Die Bundesrepublik will international in der Nutzung der Atomkraft nicht den Anschluss verpassen. Bereits zwei Jahre später geht in Garching bei München der erste Forschungsreaktor in Betrieb, der erste komplett von deutschen Ingenieuren erbaute 1961 im Hardtwald bei Karlsruhe. Süddeutschland bleibt trotz einiger Proteste, vor allem in Baden-Württemberg, im Fokus der deutschen Atomkraft: Im bayerischen Kahl am Main, direkt an der Grenze zu Hessen gelegen, nimmt 1960 der erste kommerzielle Kernreaktor seinen Betrieb auf. Die 1960er-Jahre bleiben eine Zeit des Atom-Booms, zumal in Bayern (z.B. Gundremmingen) und Baden-Württemberg (z.B. Obrigheim) entstehen neue Anlagen. Erstmals wird mit der Atomkraft eine Technologie staatlich gefördert, obwohl es keinen unmittelbaren Bedarf dafür gibt. Bedenkt man, dass bis heute die meiste in Deutschland genutzte elektrische Energie aus Kohleverstromung stammt, erscheinen die damaligen Prognosen der Atomlobby – ohne Atomstrom würden in Deutschland bald die ersten Lichter ausgehen – als gezielte Panikmache ohne sachliche Berechtigung.

In den 1970er-Jahren gibt es dann die ersten Unfälle in deutschen AKW, glücklicherweise ohne Kernschmelze, aber zum Teil durchaus mit toten Kraftwerksmitarbeitern. In einer wirtschaftlich prosperierenden Zeit, in der die Generation der 20- bis 29-Jährigen sich keine Sorgen um Arbeitsplätze machen muss und zugleich die Politik ihrer teilweise mit nationalsozialistischem Hintergrund belasteten Elterngeneration in Frage stellt, gerät die Atomenergie zunehmend in die Kritik. Den Befürwortern der Atomkraft scheint freilich zunächst die Energiekrise in die Hände zu spielen (1973: Die arabische OPEC-Staaten drosseln ihre Ölfördermengen drastisch, um Druck auf die westlichen Staaten auszuüben, die Israel im Jom-Kippur-Krieg mit dessen arabischen Nachbarn unterstützten). Doch als 1975 im badischen Wyhl ein neues AKW gebaut werden soll, besetzen besorgte Menschen den Bauplatz – insbesondere im Weinbau und in der Landwirtschaft Tätige, die um die Qualität ihrer Produkte fürchten. Massive Polizeigewalt vermag den Widerstand nicht zu brechen, vier Jahre später wird das Projekt beerdigt. Durch Wyhl wird Baden-Württemberg zum Geburtsort einer neuen politischen Partei in Deutschland, der Grünen, die dort knappe 35 Jahre später, erneut kurz nach der Niederknüppelung friedlicher Proteste gegen ein umstrittenes Großprojekt, sogar den Ministerpräsidenten stellen.

Die Polizei, dein Freund und Helfer?

Aber erst in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre beginnt die Parole „Atomkraft? Nein Danke!“ allmählich mehrheitsfähig zu werden. Dazu tragen zwei Aufsehen erregende, traurige Ereignisse innerhalb eines Jahres bei: 1985/1986 schlägt die Polizei die anhaltenden Proteste gegen die geplante erste Wiederaufbereitungsanlage im oberpfälzischen Wackersdorf mit unangemessener Härte nieder. Über 100 Beamte quittieren ihren Dienst. Der zuständige Polizeipräsident wird ausgetauscht, weil er seine Leute nicht hart genug gegen die friedlichen Demonstranten einsetzen lässt. Zeitzeugen berichten von Agents provocateurs der Polizei, die als als Autonome verkleidet worden seien, um die Stimmung aufzuheizen; einem der Vermummten aus dem „Schwarzen Block“ sei die am Körper versteckte Dienstwaffe heruntergefallen; dies sei von einem Lokalreporter photographiert worden; doch die fertige Ausgabe der Zeitung mit dem entlarvenden Bild auf der Titelseite sei noch in der Nacht auf staatlichen Druck hin eingestampft worden. Einige Jahre später wird das Projekt fallen gelassen, nachdem seine Gegner schon einige Erfolge vor Gericht erzielen konnten. Doch 1986 steht auch im Zeichen der Nuklearkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl: Ein Reaktor explodiert und verseucht hunderttausende Menschen. Experten gehen von etwa 50.000 zusätzlichen Krebstoten aus, die freilich oftmals erst Jahre später erkrankten. Zudem transportieren Wind und Wolken radioaktives Material auch in weit entfernte Gebiete wie Deutschland und machen den Genuss insbesondere von Wild und Pilzen gebietsweise zu einem Gesundheitsrisiko.

Verteidigt wird die Kernenergie in Deutschland interessanterweise nicht nur von Konservativen und Exponenten der Atomlobby (sowie denjenigen, die diesen Gruppen auf den ideologischen Leim gehen), sondern auch von manchen Gewerkschaftern – nach dem Motto: Sicherung der Arbeitsplätze in deutschen AKW. Doch die Stimmung in Deutschland ist längst gekippt. Immer mehr Menschen werden darauf aufmerksam, dass Atomstrom viel teurer ist als von den Energieversorgern behauptet, weil er nach wie vor massiv staatlich subventioniert wird. Bereits in den 1990er-Jahren wird unter Bundeskanzler Helmut Kohl mit der Energiewirtschaft über eine Lösung der mit der Nutzung der Kernenergie verbundenen Probleme verhandelt, allerdings ohne Erfolg. Die erste rot-grüne Koalition auf Bundesebene beschließt schließlich den Atomausstieg. Ein reaktionärer Rollback-Versuch der schwarz-gelben Koalition unter Angela Merkel misslingt, weil er angesichts der Reaktorkatastrophe von Fukushima (2011) nicht mehr durchzusetzen ist.

Insgesamt betrachtet ist die Atomkraft in Deutschland krachend gescheitert. Nicht zuletzt auf Druck aus der chemischen Industrie hin wurde eine Technologie gefördert, die noch immer unzählige Menschenleben und unsere Umwelt gefährdet. Etablieren konnte sie sich nur, weil wir Steuerzahlerinnen und Steuerzahler massiv dafür zur Kasse gebeten wurden. Geld und Zeit, die in die Atomkraft investiert wurden, wären besser in der Weiterentwicklung erneuerbaren Energien angelegt gewesen. Mit der Kernfusion steht aber schon das nächste Forschungsfeld bereit, die Nachfolge der Kernenergie anzutreten. Und auch bei der Fusionsenergie fällt radioaktiver Müll an...