VON NORA GRAF | 07.08.2015 16:34

Endlich unabhängig – oder doch nicht?

Steht Nachwuchs bevor, so machen sich viele Eltern Gedanken über die bestmögliche Bindung zu ihren Kindern. Es ist mit viel Arbeit verbunden eine gute Eltern-Kind-Beziehung aufzubauen und zu bewahren, dem Nachwuchs Fürsorge, Liebe und Geborgenheit zu schenken. Aber es ist ebenso wichtig, seinem Kind so viel mit auf den Weg zu geben, dass es sein Leben alleine meistern, seine eigenen Entscheidungen treffen und erwachsen werden kann. Und das gelingt nur, wenn der Nachwuchs lernt, unabhängig zu werden.

Zu Anfang des Lebens ist das Kind natürlich sehr abhängig, vor allem emotional und körperlich, von seinen Eltern beziehungsweise Bezugspersonen. Doch je älter es wird versucht es immer mehr, sich aus dieser Bindung zu lösen und selbstständig zu werden. Die Kinder möchten auf eigenen Beinen stehen, finanziell, aber vor allem auch emotional. Und dabei sollten die Eltern ihre Kinder auch unterstützen, denn wenn die Heranwachsenden nicht lernen, sich emotional von dieser ursprünglichen Abhängigkeit zu lösen, so kann dies weitreichende Auswirkungen bis ins Erwachsenenalter haben, die sich dann aber umso schwerer wieder lösen lassen. Wenn die Eltern-Kind-Beziehung zwanghaft eng bleibt, können etwa unbewusste oder verleugnete Ängste und eigene Bedürftigkeiten des Nachwuchses entstehen. Zugleich fürchtet und sucht das Kind dann verzweifelt enge Beziehungen und macht sich oftmals lebenslang abhängig von der Zuneigung anderer.

Ab ins kalte Wasser, oder so ähnlich

Doch auch wenn das Kind sich emotional von seinen Eltern gelöst hat, so ist eine vollständige Unabhängigkeit für die heutige Generation schwieriger als früher. Die Gründe dafür sind vor allem die unsicheren Arbeitsbedingungen. Viele Berufsneulinge müssen sich mit schlecht bezahlten Jobs zufrieden geben, mit Praktika oder befristeten Zeitverträgen, die auf Dauer keine finanzielle Sicherheit garantieren. Da bleiben viele junge Erwachsene lieber gleich länger zu Hause wohnen oder müssen wieder auf etwas Taschengeld seitens der Eltern zurück greifen.

Auch Jahre nach Ausbildungsende brauchen Kinder also ihre Eltern. Immer wieder hört man von solchen Fällen, die leider eher die Regel als die Ausnahme bilden: von Studierenden, die sich nach ihrem Abschluss trotz bester Noten von einem Zeitvertrag zum nächsten hangeln, von Hospitierenden, die eine ganze Galerie alleine schmeißen oder zum Beispiel von einer Ökobäckerei-Kette, die Praktikanten mit abgeschlossener Ausbildung und Studium sucht.

Bei folgenden Zahlen verwundert es nicht, dass so mancher Erwachsener wieder bei seinen Eltern einzieht. Von 1999 bis 2004 hat sich die Zahl der Praktikanten mit Uniabschluss, die bei der Agentur für Arbeit registriert waren, verdoppelt. Der Bamberger Soziologieprofessor Hans-Peter Blossfeld ist überzeugt, dass sich durch die Globalisierung die Unsicherheiten auf dem Arbeitsmarkt innerhalb der letzten 10 bis 15 Jahren dramatisch erhöht haben. 16 Prozent der über 65-Jährigen unterstützten ihre Kinder oder Enkelkinder regelmäßig, mit durchschnittlich 350 Euro, so eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Das Erbe wird also schon zu Lebzeiten häppchenweise weiter gegeben.

Das wiederum führt manchmal zu Schuldgefühlen der Kinder, die das Gefühl haben, die Eltern schränken sich ihretwegen ein. Daraus kann schon mal ein Dilemma entstehen. Einerseits möchte man unabhängig sein, andererseits braucht man die Unterstützung seiner Eltern. Ratschläge für eine komplette Unabhängigkeit gibt es viele, wie etwa abends noch zusätzlich in einer Kneipe zu jobben oder allgemein selbstbestimmter und freier von anderen Meinungen zu leben. Doch in erster Linie muss sich wohl jedes Kind selbst fragen, inwieweit es sich helfen lässt und ob davon seitens der Eltern bestimmte Erwartungen geknüpft werden. Es spricht ja auch nichts dagegen, Unterstützung von seinen Eltern zu bekommen, solange man sich nicht in seiner Persönlichkeit oder Autonomie eingeschränkt fühlt. Schließlich ist es beruhigend zu wissen, dass man sich auf die Familie in schwierigen Situationen verlassen kann.