VON CLEMENS POKORNY | 08.01.2014 16:44

Armut - Alltag in Deutschland

"Arm trotz Arbeit" ist in Deutschland traurige Realität. Nach neuesten Zahlen liegt das statistische Armutsrisiko bei 15,2%, Tendenz steigend. Ganze Regionen wie das Ruhrgebiet werden von wirtschaftsstarken, insbesondere im Süden, abgehängt. Die im Grundgesetz geforderten "gleichwertigen Lebensverhältnisse" herrschen in der Bundesrepublik keineswegs. Und das wird wohl so bleiben: Besonders die Altersarmut wird in den kommenden Jahren immer mehr zunehmen.

"Deutschland ging es nie so gut wie heute", behauptete der damalige Wirtschaftsminister Philipp Rösler Anfang März 2013. Was die Wähler von Röslers Meinung hielten, zeigten sie bei der Bundestagswahl ein halbes Jahr später. Dabei hatte der Wirtschaftsliberale offensichtlich nicht nur ein etwas eingeschränktes Bild von "Deutschland", sondern versuchte auch erfolgreich, den jährlichen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zu schönen. Für die Arbeit der Merkel-Truppe allzu vernichtend klingende Passagen wurden verändert, durch Schaubilder ersetzt (die sich nicht zitieren lassen!) oder gleich ganz gestrichen. Doch auch so ließ sich nicht verhehlen, dass Armut auch im vermeintlich reichen Deutschland ein gravierendes Problem ist: Über vier Millionen Menschen arbeiteten demnach für einen Stundenlohn von weniger als sieben Euro, die Privatvermögen bleiben sehr ungleich verteilt – und (im Armutsbericht gestrichen, aber anderweitig belegt) die Einkommensspreizung geht weiter, will heißen: Die höchsten Einkommen werden immer üppiger, während immer mehr Menschen von schlecht bezahlter Arbeit oder gleich mehreren Minijobs leben müssen.

Der Paritätische Gesamtverband

Diese Fakten werden von ungeschönten Zahlen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ergänzt, der im Dezember 2013 seinen "Bericht zur regionalen Armutsentwicklung in Deutschland 2013" herausgegeben hat. Demnach sind bundesweit 15,2% der Bevölkerung armutsgefährdet. Das bedeutet: Drei von zwanzig Menschen oder Familien steht weniger als 60% des Durchschnittseinkommens zur Verfügung. Singles gelten somit mit einem Einkommen von weniger als 869 Euro, Familien mit weniger als 1.826 Euro als armutsgefährdet. Mit "Armutsgefährdung" wird dabei gegenüber "Armut" ein genau definierter Begriff verwendet, der zudem erstens sich ausschließlich auf das Einkommen bezieht, also nicht ausschließt, dass betroffene Menschen noch andere Einkünfte (etwa Geschenke) beziehen, und zweitens impliziert, dass Armut in Deutschland nicht mit der "absoluten Armut", also einer existenziellen Bedrohung, in Entwicklungsländern vergleichbar, sondern eben nur "relativ" zum Durchschnittseinkommen ist.

Innerhalb Deutschlands besteht das höchste Armutsrisiko unverändert in den neuen Bundesländern, abgesehen vom Stadtstaat Bremen, der im Ranking des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes an letzter Stelle steht. Andere Großstädte wie Duisburg oder Dortmund stehen allerdings noch schlechter da als die Hansestadt. Das liegt an der insgesamt besorgniserregenden Entwicklung des Ruhrgebiets im Hinblick auf die Armut. Weit unterdurchschnittlich sind nur die Menschen in Baden-Württemberg und Bayern von Einkommensarmut betroffen.

Neben einer verfehlten Arbeits- und Sozialpolitik, die in den vergangenen Jahren viele Menschen aus dem Mittelstand absteigen ließ und zur Entstehung zwar oft sozialversicherter, aber schlecht bezahlter Arbeitsplätze geführt hat, gibt es individuelle Risikofaktoren für Armut: Ein niedriges Bildungsniveau bedeutet schlechte Einsetzbarkeit im Beruf. Kranke und Behinderte haben es in Deutschland nach wie vor schwer, eine gut bezahlte Arbeit zu finden. Wer alleine lebt, dem fehlt im Notfall oft die finanzielle Absicherung, die weitere Erwerbstätige im Haushalt bieten können. Alleinerziehende schließlich müssen oft mehrere Jahre der Kinder wegen ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen und erwerben so geringere Rentenansprüche.

Doch selbst wer 35 Jahre in Vollzeit arbeitet und dafür einen Durchschnittslohn (2.500 Euro brutto) erhält, wird später eine Rente in einer Höhe unterhalb der Armutsgrenze bekommen. Zwar bezogen im Jahr 2011 nur 436.000 Menschen oder 2,6% der Über-64-Jährigen in Deutschland die Grundsicherung im Alter – eine Art ALG II für Altersarme –, doch müssen laut dem Sozialforscher Christoph Butterwegge 760.000 Menschen in diesem Alter schon jetzt einen Minijob ausüben, um über die Runden zu kommen – 120.000 von ihnen sind über 75 Jahre alt. Diese Zahlen werden künftig weiter steigen, und nicht nur die kerngesunden Senioren werden buchstäblich bis zum Umfallen malochen müssen. Da muten Ratschläge wie "privat vorsorgen" zynisch an: Wie soll ein Minijobber oder auch Durchschnittsverdiener noch fürs Alter zurücklegen, wenn er schon im "ersten" Erwerbsleben kaum genug zum Leben hat?