VON CLEMENS POKORNY | 10.08.2016 16:30

Menschenrechte: Ein nicht unumstrittenes juristisches Konstrukt

Die 1948 ohne Gegenstimmen von den Vereinten Nationen beschlossene „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ wird permanent verletzt – in den westlichen Ländern, viel mehr noch aber in Diktaturen und islamischen Ländern. Kritische Stimmen halten die Menschenrechte für ein westliches Konstrukt, das in anderen Kulturen keine uneingeschränkte Gültigkeit beanspruchen könne – doch diese Position überzeugt nicht.

„Der Mensch ist von höchster Würde, weil er eine Seele hat, die ausgezeichnet ist durch das Licht des Verstandes, durch die Fähigkeit, die Dinge zu beurteilen und sich frei zu entscheiden, und die sich in vielen Künsten auskennt.“ So beschrieb der aufklärerische Philosoph Samuel Pufendorf die Menschenwürde. Dieser allen Menschen gemeinsame und ohne Ansehen der Person gleich hohe Wert bildet in der deutschen Rechtstradition die Grundlage für die sogenannten Menschenrechte. Jeder Mensch ist danach Selbstzweck, nie bloß Mittel zum Zweck. Zum Schutze insbesondere der Freiheit des einzelnen Menschen vor staatlichem Zugriff wurde am 10. Dezember 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen und seither mehrfach erweitert. Sie baut auf einer über 2000-jährigen Geschichte auf. Drei Prinzipien sind für die verschiedenen Kataloge der Menschenrechte wesentlich: Erstens die Universalität, also die Allgemeingültigkeit. Menschenrechte gelten überall und zu jeder Zeit für jeden Menschen. Zweitens die Egalität, also Gleichheit: Bezüglich der Anwendung der Menschenrechte darf keine Diskriminierung (je unterschiedliche Behandlung der Betreffenden) stattfinden. Und drittens Unteilbarkeit: Ohne Versammlungs- gibt es auch keine Meinungsfreiheit, ohne das Recht auf Leben auch keinen Schutz vor Folter. Menschenrechte gibt es immer nur „im Paket“.

Zu ihnen gehört, neben dem Erwähnten, viel für uns heute Selbstverständliches: Die Rechte auf Freiheit, Eigentum, Selbstbestimmung, auf Bildung oder auch auf Gründung von Gewerkschaften; die Religions-, Reise-, Informations- und Berufsfreiheit. Auch justizielle Menschenrechte wie dasjenige auf wirksamen Rechtsschutz bei Rechtsverletzungen, das Recht auf ein faires Verfahren und rechtliches Gehör sowie die Grundsätze „keine Strafe ohne Gesetz“ sowie die Unschuldsvermutung werden von den Vereinten Nationen garantiert – wenigstens theoretisch.

Amnesty Jahresbericht 2015/16

Denn in der Praxis werden die Menschenrechte immer wieder verletzt. Deutschland kennt, anders als etwa das erzkatholische Irland, noch immer keine Homo-Ehe. In den USA werden nach wie vor Menschen gefoltert und hingerichtet. Und in vielen islamischen Ländern werden die Rechte von Frauen und religiösen Minderheiten mit Füßen getreten. Abgesehen von ihrer mangelhaften Umsetzung sind auch die Menschenrechte selbst nicht frei von Kritik. So wird bemängelt, dass Staaten für deren Einhaltung zuständig sind; wer aber schützt Staatenlose, solange es kein Recht auf eine Staatsbürgerschaft gibt? An wen sollen Flüchtlinge sich wenden, deren Menschenrechte in ihrem Heimatstaat nicht gewahrt werden? In diesem Zusammenhang werden Nationalstaaten an sich als „veraltetes“ Rechtskonstrukt in Zweifel gezogen. Außerdem kritisieren viele Intellektuelle die eurozentrische Ideologie der Menschenrechte: Diese seien einer europäischen Tradition entwachsen, die auf andere Kulturen nicht eins zu eins übertragbar sei. Wenn irgendwo auf der Welt ein Menschenrecht verletzt wird, erscheinen die Betroffenen aus westlicher Perspektive als Opfer, obwohl sie sich vielleicht gar nicht so fühlen. Sogar Kriege wurden und werden mit Verweis auf die Durchsetzung der Menschenrechte geführt (Bsp.: Jugoslawien, Afghanistan), ohne dass eine Mehrheit der so „Beglückten“ dies gewollt hätte. Zumindest der Afghanistan-Krieg hat tatsächlich zigtausende Menschenleben gekostet und die Lage am Hindukusch nicht gerade verbessert. Dem Eurozentrismus-Vorwurf lässt sich allerdings mit einem Verweis auf das Abstimmungsergebnis im Jahr 1948 begegnen: Gegen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte erhob sich keine einzige Gegenstimme, einige kommunistische Staaten und der Apartheid-Staat Südafrika enthielten sich aber – und auch Saudi-Arabien.

Riad steht stellvertretend für viele islamisch geprägte Staaten, in denen die Menschenrechte nur theoretisch gelten. Insbesondere Frauen werden dort viele elementare Rechte vorenthalten, zum Teil mit abstrusen Begründungen. Schon allein die Geltung der Scharia, die laut dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte „mit den fundamentalen Prinzipien in der Demokratie inkompatibel“ ist, verhindert in Saudi-Arabien, dem Iran, dem Sudan und anderen Staaten die volle Entfaltung der Menschenrechte im Sinne der Vereinten Nationen. Konsequenterweise haben die 56 Länder der „Organisation für Islamische Zusammenarbeit“ daher 1990 die „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“ (KEMR) verabschiedet, die in Konkurrenz zur Erklärung der Vereinten Nationen steht. Sie diskriminiert Nicht-Muslime und Frauen massiv, weil sie die Menschenrechte, die nur für Männer uneingeschränkt gelten, an den Glauben an Allah knüpft und schränkt einige Grundrechte und Freiheiten – selbst verglichen mit den Standards in einer Reihe islamischer Staaten, erheblich ein. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die KEMR den Menschen nicht primär als Individuum betrachtet. Dass nicht wenige Muslime die Demokratie westlicher Prägung, die mit den Menschenrechten untrennbar verbunden ist, nur bedingt mittragen, kennen wir ja aus Deutschland: Laut einer wissenschaftlichen Untersuchung der Universität Hamburg für die Bundesregierung („Muslime in Deutschland“, S. 141) halten rund 47 Prozent der Muslime in Deutschland Religion für wichtiger als Demokratie.

Der zum Beispiel im Sinne des islamischen „Sonderwegs“ vorgebrachte Eurozentrismusvorwurf ist, wie oben gezeigt, wenig stichhaltig. Auch die Kritik am Absolutheitsanspruch der Menschenrechte kann nicht überzeugen: Die Verbesserungen, die sich durch die Fixierung der Menschenrechte für Milliarden Menschen eingestellt haben, lassen sich nicht leugnen. Das heißt allerdings nicht, dass die Menschenrechte auf ewig abgeschlossen wären und keiner Erweiterung bedürften: Bisher werden künftige Generationen, andere Lebewesen als Homo sapiens sapiens und auch die Natur in den international verbrieften Grundrechten nicht berücksichtigt. Und eine Regierung, die die Verletzung der Menschenrechte in Saudi-Arabien kritisiert, macht sich unglaubwürdig, wenn sie gleichzeitig ungehemmt Waffen dorthin liefert, bei denen davon ausgegangen werden muss, dass sie auch bei Menschenrechtsverletzungen eingesetzt werden.

Bild: "Mentalgassi | Amnesty International" von Steffi Reichert via Flickr.com. Von UNI.DE zugeschnitten und mit ©-Hinweis versehen.
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