VON LISI WASMER | 22.05.2014 17:55

Kitty Genovese – Wegschauen ist menschlich

Eine junge Frau wird niedergestochen, vergewaltigt und ausgeraubt – 30 Minuten lang. 38 Nachbarn beobachten das Verbrechen. Aber niemand reagiert. Der Fall von Catherine „Kitty“ Genovese aus dem Jahr 1964 ist wohl das meist zitierte Beispiel für den sogenannten Bystander-Effekt: Je mehr Leute in einer Situation potenziell Hilfe leisten könnten, umso geringer ist die tatsächliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass jemand helfend eingreift. Wie dieses Paradox zu erklären ist, welche Rolle die Verantwortungsdiffusion dabei spielt und warum es trotzdem gar nicht so schwer ist, Zivilcourage zu zeigen.


März 1964: Ein Backsteinhaus in Queens, New York. Es ist das Wohnhaus von Catherine Genovese, genannt Kitty, die in den frühen Morgenstunden von der Arbeit nach Hause kommt und auf dem Weg zur Haustür von einem Unbekannten angegriffen wird. Er verletzt die 28-Jährige mit einem Messer, Kitty Genovese schreit. 38 Nachbarn beobachten den Überfall. Ein einziger reißt sein Fenster im siebten Stock auf und schreit, was da unten los sei. Der Täter flieht. Fünf Minuten später kommt er zurück, vergewaltigt die bereits schwer verletzte Frau und raubt sie aus. Erst jetzt ruft jemand die Polizei – 30 Minuten nach dem ersten Angriff. Kitty Genovese stirbt noch auf dem Weg ins Krankenhaus an ihren Verletzungen. In der Presse liest man später, sie starb vor allem an der Teilnahmslosigkeit ihrer Nachbarn.

Was allen gehört, wird von keinem geschützt - The Tragedy of the Commons

Die Leichtigkeit der Selbstverleugnung

Aber waren die 38 Nachbarn im Fall Kitty Genovese einfach nur eine unglückliche Häufung charakterschwacher Einzelpersonen? Wurde das Mietshaus in Queens durch einen traurigen Zufall nur von teilnahmslosen, wenig hilfsbereiten und moralisch kaum vorbildhaften Menschen bewohnt? Oder anders gefragt: Wie hätten wir uns in jener Nacht verhalten?

Es ist ein bisschen wie mit Stanley Milgrams Experiment zur Autoritätshörigkeit von 1961, das gemeinsam mit zahlreichen Folgeuntersuchungen belegt: Unabhängig von Bildung, Geschlecht, Alter oder Nationalität neigen Menschen dazu, andere, unbekannte Menschen grausam zu quälen, wenn es ihnen von einer mutmaßlichen Autoritätsperson aufgetragen wird. Wir würden das nie tun. Wir würden auch nicht 30 Minuten aus dem Fenster auf eine hilflose Frau und ihren Peiniger starren, ohne wenigstens die Polizei zu rufen. Oder?

Festverdrahtete Charakterschwäche

In ihrem Bericht zu Kitty Genovese schreibt die New York Times nicht von asozialen, empathiebefreiten Nachbarn. Sie schreibt von „respectable, law-abiding citizens“, von gewöhnlichen Menschen mit gewöhnlichen ethischen und moralischen Ansprüchen. Von Menschen wie uns. Und tatsächlich, so unangenehm es auch klingt: Wir alle neigen zum Wegsehen. Die Gründe sind vielschichtig, zwei Hauptfaktoren belegen berühmte Experimente aus der Sozialpsychologie: Zum einen das Konformitätsexperiment von Solomon Asch (1951), dem Paradebeispiel für funktionierenden Gruppenzwang; zum anderen ein Versuch von John Darley und Bibb Latané (1968), in dem das menschliche Verlangen nach Entscheidungshilfen deutlich wird.

Was zeigen diese Versuche? Sie zeigen erstens, dass Menschen dazu neigen, ihre Meinung wider besseren Wissens der ihrer Mitmenschen anzupassen, wobei die Gründe dafür vom Wunsch nach Akzeptanz bis zur Furcht vor sozialer Isolation reichen. Zweitens belegen die Experimente, dass Menschen ihr Verhalten nicht individuell und abgelöst vom Kontext ausrichten, sondern stets vor dem Hintergrund des Verhaltens der Menschen in ihrer Umgebung: Bleiben diese in einer potenziellen Gefahrensituation ruhig und passiv, neigen wir dazu, ebenfalls keine Initiative zu ergreifen. Fazit? Wir wollen nicht auffallen. Und wir verlassen uns, vor allem in ungewohnten Situationen, lieber auf das Urteil anderer als auf unser eigenes. Das ist menschlich. In Fällen wie 1964 in Queens ist es tödlich.

Akzeptieren, Reflektieren, Reagieren

Andererseits scheint hinter dem Tod Kitty Genoveses mehr zu stecken als rein das Bedürfnis nach sozialer Akzeptanz. 38 Nachbarn schauen weg. Nicht einer ruft die Polizei. 30 Minuten lang. Wie kann das also sein? Eine weitere Untersuchung von Darley und Latané (1968) liefert einen Erklärungsansatz, der auf den ersten Blick paradox anmutet: Je mehr Menschen in einer Situation potentiell Hilfe leisten könnten, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass in dieser Situation auch tatsächlich helfend eingeschritten wird. Das entsprechende sozialpsychologische Phänomen wird „Verantwortungsdiffusion“ genannt: Die Verantwortung wird von den Beteiligten auf alle Anwesenden verteilt, bis man sich ab einer gewissen Anzahl Anwesender schlicht nicht mehr ausreichend zuständig fühlt, um einzuschreiten.

Dem liegt natürlich ein fataler Denkfehler zugrunde: Verantwortung kann man nicht aufteilen. So wie die Menschenwürde einer Person weder zu- noch abnimmt, nur weil eine andere Person zugegen ist oder eben nicht, so kann auch Verantwortung nicht prozentual und anteilig auf alle Anwesenden umgelegt werden. Die Verantwortung jedes einzelnen beträgt immer 100 Prozent.

Wie können wir dieser gerecht werden, ohne uns selbst zu gefährden? Es muss nicht der Messerstecher im Innenhof sein, nicht der Übergriff in der S-Bahn. Zivilcourage fängt schon viel früher an – immer da, wo wir Ungerechtigkeit begegnen und dagegen angehen, sei es in der Uni, im Sportverein oder etwa im Internet. Und Zivilcourage ist gesellig. Denn auch wenn Verantwortung nicht aufgeteilt werden kann, gemeinsam wahrgenommen werden kann sie durchaus.