VON CLEMENS POKORNY | 17.12.2013 19:26

Die Eiserne Mauer - Israel im Nahen Osten

Seit 2003 trennt eine fast 800 Kilometer lange Sperranlage das Westjordanland vom Rest Israels ab – die „Eiserne Mauer“. Sie verstößt gegen das Völkerrecht und hat den Friedensprozess in Nahost weiter erschwert. Tatsächlich übergeht Israel seit Jahrzehnten die Rechte der Palästinenser und schafft dabei Fakten. Vordergründig dient der Zaun der Abwehr von Terroranschlägen. Doch obwohl dieser Effekt erwiesen ist, zeigt ein Blick in die Geschichte Israels, dass es um viel mehr geht.


Schon 1923 forderte Vladimir Jabotinsky, ein rechter Zionist (jüdischer Nationalist), die zionistische Kolonisation gegen den Willen der jeweils einheimischen Bevölkerung durchzusetzen, und zwar unter dem Schutz einer „eisernen Mauer, die die eingeborene Bevölkerung nicht durchbrechen kann“. Am 29. November 1947 beschloss die VN-Vollversammlung gegen die Stimmen aller arabischen Nationen, das zu diesem Zeitpunkt noch unter britischem Protektorat stehende Palästina in einen jüdischen und einen palästinensischen Staat aufzuteilen. Der sofort nach Israels Unabhängigkeitserklärung (14. Mai 1948) von arabisch-palästinensischer Seite begonnene Palästinakrieg bildete dann den Auftakt des bis heute andauernden Nahostkonflikts.

Töten mit Gottes Erlaubnis

Viel später ließ Israels Ministerpräsident Izhak Rabin im Jahr 1994 den Gazastreifen durch einen Sicherheitszaun komplett abriegeln. Seitdem sind die Palästinenser im Gaza ringsum eingeschlossen und haben Dutzende Quadratkilometer Ackerland an die Sperrzone vor dem Zaun verloren. Ein Jahr darauf schlug Rabin die Umzäunung auch des zweiten, größeren Palästinensergebietes, des Westjordanlandes („west bank“), vor. Als ab dem Jahr 2000 die palästinensischen Selbstmordattentate stark zunahmen, ging Israel unter Ministerpräsident Ariel Sharon 2003 an die Verwirklichung der alten Idee.

Bis 2010 wurde so ein 759 Kilometer langer, schwer gesicherter Metallzaun mit Stacheldraht, einem Graben, einem Zaun mit Bewegungsmeldern und einem geharkten Sandstreifen zur Verfolgung von Fußabdrücken errichtet – in palästinensischen Augen die „Eiserne Mauer“. In den Ballungsgebieten besteht diese Grenze, wie einst in Berlin oder noch heute in Belfast, tatsächlich aus einer bis zu acht Meter hohen Mauer. Auch im Fall der Sperranlagen rund um das Westjordanland wurde den Palästinensern Land geraubt – aber nicht nur für eine Pufferzone auf beiden Seiten der Grenze. Anders als im Fall des Gazastreifens verletzte Israel den nach dem Sechstagekrieg (1967) festgelegten, bis heute international anerkannten Grenzverlauf, und drang mit seinem Zaun auf etwa 80% von dessen Länge in palästinensisches Gebiet ein, zum Teil mehrere Kilometer weit. Jahrhundertealte Olivenhaine der betroffenen Bauern wurden zerstört, andere müssen lange Wartezeiten und entwürdigende Durchsuchungen an den wenigen Stellen in Kauf nehmen, an denen die „Eiserne Mauer“ passiert werden kann, um zu ihren Feldern zu kommen. Viele wurden enteignet und bis heute nicht entschädigt, wie die von Friedensnobelpreisträger Jimmy Carter hochgelobte Videodokumentation „Die Eiserne Mauer“ zeigt. 2003 wurden die Sperranlagen durch eine Resolution der VN-Vollversammlung scharf kritisiert, Anfang April 2004 qualifizierte ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zu Den Haag sie als „völkerrechtswidrig“. Israel focht dies nicht an. Man verwies und verweist bis heute darauf, dass die Grenzanlagen die Selbstmordattentate gewaltbereiter Palästinenser nachweislich erfolgreich unterbinden.

Doch die Behauptung, „ohne den Terror müsste es auch keinen Sperrzaun geben“, wird durch das oben zitierte Jabotinsky-Zitat widerlegt. Wer politische Landkarten von Israel und Palästina über die Jahrzehnte hinweg miteinander vergleicht, wie Arte es einmal getan hat, dem fällt ins Auge, dass seit Gründung des Staates Israel die Palästinensergebiete immer kleiner geworden sind. Heute nehmen illegale israelische Siedlungen im Westjordanland bereits 42% des Gebietes ein. Dieses Faktum stimmt damit überein, dass Israel sich schon immer schwer damit tat, die Palästinenser und ihre Rechte anzuerkennen. Der erste Ministerpräsident David Ben Gurion fand an Zwangsumsiedlungen von Palästinensern „nichts Unmoralisches“ (1938), seine spätere Nachfolgerin Golda Meir leugnete 1969 die Existenz des palästinensischen Volkes, und der Geographie-Professor Arnon Sofer von der Universität Haifa verteidigte israelischen Mord an Palästinensern etwa im Gazakrieg (2008/2009) damit, dass die Palästinenser, sobald ihre Zahl 2,5 Millionen überschreite, einen „furchtbaren Druck“ auf die Grenze ausüben werde. Folgerichtig wurden zur Zeit des Gazakrieges T-Shirts für israelische Armeeangehörige mit dem Bild einer schwangeren Muslima im Fadenkreuz produziert, mit der Aufschrift „1 SHOT – 2 KILLS“.

Israel lässt den Palästinensern also immer weniger Raum und provoziert damit zugleich neue Kriege. Seit DDR-Zeiten wissen wir, dass ein Volk sich nicht dauerhaft einsperren lässt. Die massenmedial verbreiteten Bilder von verabscheuungswürdigen palästinensischen Terroranschlägen verdecken die ebenso verabscheuungswürdige strukturelle Gewalt, die Israel den Palästinensern antut und die nicht so einfach in schockierenden Bildern dargestellt werden kann. Wenn der Frieden in Nahost eine Chance bekommen soll, müssten die illegalen Siedlungen geräumt und die „Eiserne Mauer“ zurückgebaut werden. Wie im Zwischenmenschlichen auch, müsste im Heiligen Land der Stärkere auf den Schwächeren zugehen. Stattdessen baut Israel immer neue Siedlungen auf Palästinensergebiet.

Quellen (soweit nicht verlinkt): Mohammed Alatar, Die Eiserne Mauer, Palästina 2006 (Dokumentarfilm); Ilan Pappe, Die ethnische Säuberung Palästinas, Frankfurt 2007; sowie Vittorio Arrigoni, Mensch bleiben. Frankfurt/M. 2009.