1 Postmaterialismus oder Wertesynthese?
Die große Wende in den Werthaltungen der jungen MitteleuropäerInnen nach dem zweiten Weltkrieg wurde durch die 68er-Bewegung symbolisiert. Sie war Ausdruck dafür, dass die so genannten "postmaterialistischen Werte" an Einfluss gewonnen hatten. Der Amerikaner Ronald Inglehart, auf den der Begriff „Postmaterialismus“ zurückgeht, sieht vor allem die Jugend als Träger dieses Wertewandels, der im Kern in einer Hinwendung zu den ethischen Grundsätzen einer nicht-instrumentellen Lebensführung besteht. Ästhetische Kreativität, individuelle Selbstverwirklichung, Schutz der Natur etc. treten an die Stelle von materialistischen Idealen wie Karriere, Reichtum, demonstrativen Statusinszenierungen und überspitzten Sicherheitsbedürfnissen. (vgl. Inglehart 1989: 90f.) Den jungen Menschen des postmaterialistischen Zeitalters der 1960er und 1970er Jahre geht es vorrangig um ein freies, selbst bestimmtes Leben, das weniger stark vom Einfluss tradierter Konventionen abhängt, und um eine authentische, nicht entfremdete, nicht primär an egoistischen Zwecken ausgerichtete Lebensführung.
Schon in den 1980er Jahren tritt der deutsche Soziologe Helmut Klages der Postmaterialismustheorie von Ronald Inglehart entgegen. Klages bestreitet nicht, dass postmaterialistische Selbstentfaltungswerte dabei sind, an Bedeutung zu gewinnen. Er glaubt nur nicht wie Inglehart, dass diese die materialistisch geprägten Pflicht- und Akzeptanzwerte radikal verdrängen würden. Vielmehr weist er aufgrund empirischer Untersuchungen auf die gleichzeitige Existenz von Selbstentfaltungswerten und Pflicht- und Akzeptanzwerten in einer mittelstarken Ausprägung hin. „Es kann heute zusammenfassend festgestellt werden, dass die Pflicht- und Akzeptanzwerte (…) keineswegs zerstört, ausgelöscht oder in die Bedeutungslosigkeit verdrängt wurden. Vielmehr ergaben sich Einbußen, die dazu führten, dass diese Werte, die vorher überwiegend hohe Ausprägungen besessen hatten, durchschnittlich gesehen auf mittlere Ausprägungsgrade reduziert wurden. Umgekehrt wurden die Selbstentfaltungswerte, die vorher überwiegend niedrige Ausprägungen gehabt hatten, im Gesamtdurchschnitt der Bevölkerung in mittlere Ausprägungslagen emporgehoben.“ (Klages 1988: 58)
Für Klages besteht nun die zentrale Problematik, deren Lösung für die Zukunft unseres Gemeinwesens entscheidend sein wird, darin, ob es einer Mehrheit der Menschen gelingen kann, zwischen Pflicht- und Akzeptanzwerten einerseits und Selbstentfaltungswerten andererseits eine Synthese herzustellen. Die Herausforderung für das Individuum besteht darin, einen Ausgleich zwischen Realitäts- und Lustprinzip zu finden. (Klages 1988: 147) Zur Herstellung der Wertesynthese sind wertepolitische Rahmenbedingungen notwendig, die den Menschen Verantwortungsrollen anbieten und sie dazu motivieren, diese Rollen auch aktiv zu übernehmen. Für Klages sind Verantwortungsrollen eine wichtige praktische Grundlage der Wertesynthese, weil sie einerseits die Verwirklichung von autozentrischen Selbstverwirklichungsbedürfnissen ermöglichen, andererseits aber auch bei den handelnden Menschen die Einsicht in die Notwendigkeit von gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen und die Akzeptanz für allgemeingültige Normen befördern. (vgl. Klages 1988: 149)
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