VON MAXIMILIAN REICHLIN
|
05.07.2014 12:49
Warum die Fußball-WM mich mal kann - Bekenntnisse eines Spielverderbers
Ich bin kein großer Fußballfan. Mein Mitbewohner schon. Deswegen kriegen wir uns auch oft in die Haare. Er will einfach nur in Ruhe seiner Lieblingsmannschaft beim Spielen zusehen, ich hingegen sehe nicht ein, warum sich jemand freiwillig ansehen möchte, wie 22 wildfremde Überbezahlte 90 Minuten lang einem Ball hinterherlaufen. Zur WM oder EM ruhen unsere Waffen aber meistens, denn dann schalte ich auch gelegentlich ein und gucke zu. Man will sein Land ja schließlich unterstützen. In diesem Jahr allerdings hinterlässt alleine die Vorstellung, mir eines der Spiele aus Brasilien anzusehen, einen bitteren Nachgeschmack bei mir.
Das kann mein Mitbewohner nicht verstehen. Das hatte ich aber auch nicht erwartet. Fußballfans erinnern mich oft irgendwie an religiöse Fundamentalisten: Geht es um das Heiligtum, verstehen sie keinen Spaß. Warum, ist dann die Frage, die ich von ihm am häufigsten zu hören bekomme. So auch heute, während er Bier für das heutige Spiel in den Kühlschrank stapelt. Tja, warum? Ich hatte schon im Vorfeld der WM immer wieder die Berichte aus den brasilianischen Favelas gehört, von Drogenhandel, Bandenkriminalität, Armut und Elend. Das muss einem doch spanisch vorkommen: Während tausende von Menschen in den Armutsvierteln Rios verhungern, tanzen im Fernsehen leicht bekleidete Damen mit Federschmuck zu heißen Rhythmen über den Bildschirm. Gerade zur WM wird mit diesen klischeehaften Bildern besonders viel Werbung gemacht.
Dein Standpunkt auf UNI.DE
Was das ist, warum UNI.DE so etwas macht und wie es funktioniert
[...]»
Was bisher geschah
Die UNI.DE Standpunkte im Überblick
[...]»
Schlimm ist dabei noch nicht unbedingt, dass die brasilianische Regierung, die diese Probleme natürlich kennt,
rund 11 Milliarden Euro für die Fußball-WM in die Hand nimmt, anstatt in Bildung und Sozialhilfe zu investieren. Nein, wirklich pervers wird es für mich, wenn ich die Berichte von Familien aus Rio höre, die aus ihren Häusern vertrieben werden, um Platz zu schaffen für Hotels und Stadien, oft nur mit einem Tag Vorlaufzeit. Danach kommen schon die Maschinen, meist begleitet von der Polizei. Dann folgt die
Zwangsumsiedlung. Wer nicht mitspielt, wird mürbe gemacht,
Proteste werden mit Polizeigewalt niedergeschlagen. Jeder weiß davon, aber niemand scheint sich dafür zu interessieren, solange das Runde weiter schön ins Eckige kommt. So ist es auch bei meinem Mitbewohner. Obwohl er über die Berichte aus Brasilien nicht weniger schockiert war, als ich, bricht die Fußballeuphorie bei ihm nicht ab.
Er versucht sogar noch, mich mit Argumenten zu überzeugen: So ein riesiges Event wie die Fußball-WM kann doch dem Land nicht schaden. Stichwort: Einnahmen durch den Tourismus. Na schön, da ist etwas dran. Aber ich habe so meine berechtigten Zweifel, dass das eingenommene Geld am Ende da ankommt, wo es wirklich gebraucht wird. Wahrscheinlicher ist doch, dass am Ende nur
diejenigen von der WM profitieren, die ohnehin schon Geld haben. Aber Fußball bringe doch auch Menschen zusammen, sagt mein Mitbewohner darauf. Da hat er prinzipiell nicht unrecht, wenn man von lustigen Runden mit Freunden oder vom Vereinsgeist regionaler Teams ausgeht. Im Falle Brasiliens ist es mir aber schleierhaft, wie die gestörte Euphorie um das runde Leder irgendjemanden mit irgendetwas zusammenbringt. Höchstens Straßenkinder und Obdachlose mit dem Lauf einer staatlich lizenzierten Pistole.
Es wäre meines Erachtens nur konsequent gewesen, wenn einer Regierung, die tatsächlich Menschenleben in Kauf nimmt, damit grölende Fußballfans auf der ganzen Welt in ihre Vuvuzelas tröten und sich Unmengen Bier in den Rachen kippen können, der Zuschlag für die WM wieder entzogen worden wäre. Dann hätte die FIFA gesagt: Na schön, wir haben euch die Verantwortung für die WM übertragen, ihr habt damit nur Unsinn angestellt, dann machen wir es jetzt eben woanders. Und Brasilien säße auf seinen milliardenteuren Stadien und würde dumm aus der Wäsche gucken. Eine schöne Vorstellung, die aber leider an der Realität scheitert, denn von Konsequenz wollen weder FIFA noch Fans etwas wissen. Trotzdem, dieses System muss ich nicht auch noch unterstützen, indem ich für gute Einschaltquoten sorge, deswegen bleibt mein Fernseher zur Fußball-WM eben dunkel. Dafür gelte ich bei meinem Mitbewohner nun als Spielverderber. Aber, so denke ich mir, während ich an diesem Abend den Jubelschreien meiner Freunde aus dem Nebenzimmer zuhöre, unter diesen Bedingungen muss ich ehrlich sagen: Dann doch lieber Spielverderber, als Fußballfan.
BISHER VERÖFFENTLICHTE KOMMENTARE
Bei Organisationen wie der FIFA, UEFA oder dem Olympischen Komittee stellt sich die Frage doch sowieso nicht ob das ganze dem Land was nutzt - verdienen werden nur Funktionäre, Politiker und große Baufirmen.
Was soll man auch zu einem Stadion für zig-Millionen sagen, dass dann nur 3 oder 4mal genutzt wird? Mitten im Dschungel....
Man kann nur hoffen, dass diese Organisationen irgendwann an sich selbst zerbrechen. Oder dass tatsächlich mal die großen Länder ein solches Großereignis boykottieren. Auch wenn Sport nichts mit Politik zu tun haben soll....
Die Begeisterung des Publikums für solche Großereignisse scheint aber auch zu schwinden... So wie jetzt macht das halt keinen Spaß mehr.
Ich glaube auch, dass der Effekt für das Land eindeutig überschätzt wird. Größtenteils kommt das Geld ohnehin nur wenigen Menschen zu Gute. Mich würde auch mal interessieren, ob es irgendwelche Langzeitstudien bezüglich der "Nachwirkungen" solcher Großereignisse gibt? Bei Sport lässt man sich viel zu sehr von Emotionen leiten. Mit Ratio hat das nichts mehr zu tun.