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Prof. Dr. Manfred Schartl  |  25.02.2019 15:11

Coole Anpassungen an die Kälte

Eisfische leben in einer Umgebung, die eigentlich tödlich für sie sein müsste. Wie sie es trotzdem schaffen, dort zu existieren, und welche evolutionären Anpassungen sie dafür durchlaufen mussten, haben jetzt Wissenschaftler erforscht.

Man möchte dort wahrlich nicht leben müssen: Im Eismeer rund um den Südpol liegt die Wassertemperatur bei knapp minus zwei Grad. Menschen hätten dort keine Überlebenschancen, und auch für die meisten Fischarten ist das zu kalt: Ihr Blut würde schlicht und ergreifend einfrieren, Eiskristalle würden ihre roten Blutkörperchen – die Erythrozyten – zum Platzen bringen. Und trotzdem gibt es eine Fischart, die sich auch unter solch lebensfeindlichen Bedingungen wohlfühlt und die sich dort vermehrt: die sogenannten Eisfische aus der Familie Nototheniidae.

Ein international zusammengesetztes Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hat jetzt untersucht, welche genetischen Anpassungen dafür verantwortlich sind, dass Eisfischen selbst extreme Kälte nichts ausmacht, und ist dabei auf eine Reihe charakteristischer Veränderungen gestoßen. Daran beteiligt war der Genetiker Manfred Schartl, Inhaber des Lehrstuhls für Physiologische Chemie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU). In der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Nature Ecology & Evolution stellen die Forscher die Ergebnisse ihrer Untersuchungen vor.

Leben bei Minustemperaturen
In ihrer Studie haben Manfred Schartl und Hyun Park zusammen mit John Postlethwait, der 2009 als Humboldt-Preisträger am Biozentrum der JMU geforscht hat, und weiteren Forscherinnen und Forschern aus Korea und USA das Genom des antarktischen Schwarzflossen-Eisfisches, Chaenocephalus aceratus, sequenziert und dort nach speziellen Veränderungen gesucht, die für die einzigartige Physiologie verantwortlich sind. Dabei erhielten sie auch Einblicke in die Entwicklung dieses Fisches im Laufe der Evolution. „Eisfisch-Populationen sind zum ersten Mal am Ende des Pliozäns aufgetreten, nachdem die Oberflächentemperaturen der Antarktis um 2,5 Grad Celsius abgesunken waren“, erklärt Schartl. Vor etwa 77 Millionen Jahren hatten sie sich von der Linie ihrer Vorfahren – den Stichlingen – wegentwickelt und anschließend immer besser kälteangepasste Phänotypen ausgebildet.

Ursprüngliche Nototheniiden waren rotblütig, hatten aber keine Sauerstoff bindenden Proteine, sogenannte Myoglobine, in ihrem Skelettmuskel. Außerdem lebten sie auf dem Meeresboden und besaßen keine auftriebserzeugende Schwimmblase. Als die Antarktis abkühlte und vor etwa zehn bis 14 Millionen Jahren schließlich Temperaturen von knapp minus zwei Grad Celsius erreichte, öffneten sich neue ökologische Nischen, die Eisfische dank spezieller Anpassungen besetzen konnten. Acht Fischarten aus der Familie der Notothenioiden, darunter auch die Eisfische, sahen außerdem die Chance, das Nahrungsangebot in einer größeren Höhe – weg vom Meeresboden – für sich zu nutzen.

Blut ohne rote Blutkörperchen
Es ist ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren, das Eisfischen das Überleben in großer Kälte ermöglicht. Der auffälligste darunter: Den Tieren fehlen die roten Blutkörperchen – und damit Hämoglobin; ihr Blut ist deshalb quasi durchsichtig. Dass sie trotzdem nicht an Sauerstoffarmut leiden, erklärt Manfred Schartl so: „Bei den tiefen Temperaturen ist die Sauerstoffsättigung des Meerwassers und damit auch aller Körperflüssigkeiten der Fische so hoch, dass der Sauerstofftransport durch das Hilfsmolekül Hämoglobin nicht mehr nötig ist.“ Gleichzeitig ist bei Eisfischen das Blutvolumen doppelt so groß wie das vergleichbarer Fischarten in gemäßigten Breiten, ihr Herz ist vergrößert und auch die Blutgefäße weisen einen größeren Durchmesser auf. Auch die Zahl der Energielieferanten der Zellen – der Mitchondrien – ist bei Eisfischen erhöht.

Eine weitere evolutionäre Errungenschaft dieser Gattung ermöglicht das Überleben bei Minusgraden: Eisfische produzieren spezielle Eiweiße, die sie vor dem Kältetod bewahren. Während Frostschutz-Glykoproteine bei Fischlarven und erwachsenen Tieren die Eisbildung im Körper verhindern, umgeben eisresistente Eierchorion- oder Zona-pellucida-Proteine Embryonen und schützen diese vor dem Einfrieren.

Deutliche Veränderungen im Erbgut
Im Erbgut der Eisfische haben all diese Veränderungen deutlich sichtbare Spuren hinterlassen: „Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Anzahl der Gene, die am Schutz vor Eisschäden beteiligt sind, einschließlich der Gene, die Frostschutz-Glykoproteine kodieren, im Eisfisch-Genom stark expandiert sind“, erklärt Manfred Schartl. Auch die hohe Sauerstoffkonzentration sowohl in den kalten antarktischen Gewässern als auch im Körper der Eisfische hat zu Anpassungen im Erbgut geführt. Da Sauerstoffradikale Zellschäden verursachen, besitzen die Tiere vermehrt Gene für Enzyme, die solche Schäden eindämmen helfen.

Noch an anderer Stelle im Erbgut der Eisfische stießen die Wissenschaftler auf Veränderungen, die mit dem anspruchsvollen Lebensraum im Verbindung gebracht werden können: So fehlen ihnen einige wichtige Regulatoren, die bei anderen Tierarten den Tag-Nacht-Rhythmus steuern. Die Forscher vermuten, dass die Extreme der fast permanenten Tage der Winterdunkelheit und der langen antarktischen Sommer den Nutzen einiger dieser Regulatoren und damit auch den evolutionären Druck, sie zu behalten, verringert haben könnten. Um diese Frage endgültig zu beantworten, seien jedoch Verhaltensstudien an antarktischen Eisfischen und anderen verwandten Arten notwendig.

Vorbild für eine Reihe von Krankheiten
Ihre besonderen Eigenschaften machen Eisfische für die biomedizinische Forschung interessant. „Sie haben unter natürlichen Bedingungen Phänotypen entwickelt, die menschlichen Krankheiten entsprechen“, sagt Manfred Schartl. Das Fehlen der Erythrozyten komme beispielsweise einer totalen Anämie gleich. Außerdem haben die Tiere im Laufe ihrer Evolution die Knochenverkalkung aufgegeben, um so ihre Dichte zu verringern. Das war notwendig geworden, um sich vom Meeresboden lösen und wieder im freien Wasser schwimmen zu können. Dafür mussten sie vor allem ihr Körpergewicht reduzieren. Ihre Knochen beziehungsweise Gräten sind deshalb heute in einem Zustand, wie er bei Osteoporose-Patienten zu finden ist.

Kontakt
Prof. Dr. Manfred Schartl, T: 49 931 31-84149, phch1(AT)biozentrum.uni-wuerzburg.de