Universität Ulm |
10.10.2018 10:16
Chemische Kommunikation mit „Samentaxis“
Der Duft reifer Früchte lockt Lemuren an.
Bei der Samenausbreitung auf Madagaskar spielen Lemuren eine Schlüsselrolle. Jetzt konnten Ulmer Forscher nachweisen, dass sich die einzigartige madegassische Pflanzenwelt über Jahrtausende den Primaten angepasst hat – und umgekehrt. Reife Früchte von Pflanzen, die auf Lemuren als Samenverbreiter angewiesen sind, locken die Tiere mit einem spezifischen Duft an. Im Gegenzug setzen die Primaten bei der Nahrungssuche verstärkt auf ihren Geruchssinn. Dieses Beispiel der Ko-Evolution beschreiben Ulmer Forscher in der Fachzeitschrift Science Advances.
Dass Pflanzen Bestäuber wie Insekten oder Vögel mit farbigen Blüten und Blütenduftstoffen anlocken, ist weithin bekannt. Ob der Geruch reifer Früchte bei stärker auf den Geruchssinn ausgerichteten Tieren eine ähnliche Funktion hat, also der chemischen Kommunikation mit Samenausbreitern dient, haben Ulmer Forscher auf Madagaskar untersucht. Zu den Tieren, die sich stark an Gerüchen orientieren, zählen nämlich die ausschließlich auf der Insel beheimateten Lemuren. Diese Primaten sind oft nachtaktiv sowie teils farbenblind, dafür haben sie ein ausgeprägtes Riechorgan und interagieren über olfaktorische Reize. Ob sich die Pflanzen den Bedürfnissen der Primaten angepasst haben und mit ihnen über chemische Botenstoffe kommunizieren, steht im Zentrum der aktuellen Studie. Die Hypothese der Forschenden: Die reifen Früchte dieser Gewächse geben Duftstoffe ab, die Lemuren anlocken – nicht jedoch zum Beispiel alternative Samenverbreiter wie eher visuell orientierte Vögel. Dazu haben die Autoren die Zusammensetzung und Menge von Duftstoffen reifer und unreifer Früchte analysiert sowie die Nahrungsaufnahme von Lemuren dokumentiert.
Konkret hat die Forschergruppe um Dr. Omer Nevo und Professor Manfred Ayasse vom Ulmer Institut für Evolutionsökologie und Naturschutzgenomik rund 430 reife und etwa ebenso viele unreife Früchte von 90 Pflanzen aus 30 Arten gesammelt. Gemäß ihrer literaturbasierten Klassifikation sind davon 19 Arten auf Lemuren als Samenverbreiter angewisen, 11 setzen primär oder zum Teil auf Sperlingsvögel. Von jeder Art wurden Duftstoffe reifer und unreifer Früchte gesammelt und einer umfassenden chemischen Analyse unterzogen (unter anderem Gas-Chromatographie, Massenspektrometrie). Dabei identifizierten die Forschenden chemische Komponenten, die ausschließlich bei reifen Früchten von Pflanzen mit Lemuren als Samenverbreiter vorkommen. Bei diesen Früchten verändert sich die Duftnote zudem mit zunehmendem Reifegrad. Die vergleichenden Analysen zeigten weiterhin, dass die Früchte im essbaren Zustand deutlich mehr Duftstoffe abgeben. „Insgesamt kommt es im Laufe des Reifeprozesses zu einer starken Veränderung des Duftsignals, was den Lemuren eine Unterscheidung von unreifen Früchten ermöglicht“, erklärt Dr. Omer Nevo.
In einem zweiten Schritt haben die Forschenden drei Gruppen mit neun wildlebenden Lemuren (Rotbauchmakis) im madegassischen Ranomafana-Nationalpark über sechs Wochen beobachtet. Die Grundlage ihrer Untersuchung bildeten über 530 Interaktionen von Lemuren mit Früchten. Durch ihre Beobachtungen wollte die Forschergruppe herausfinden, bei welchen Früchten die Lemuren ihren Geruchssinn einsetzen. Ihr Fokus lag auf sieben Fruchtarten, die sie zuvor in verschiedenen Reifegraden chemisch analysiert hatten. Das Ergebnis: „Tatsächlich verlassen sich die Tiere bei der Nahrungswahl umso eher auf ihren Geruchssinn, je stärker und unterschiedlicher der Duft unreifer und reifer Früchte ausfällt“, so Professor Manfred Ayasse von der Universität Ulm.
Von dieser Kommunikationsform profitieren nicht nur die Primaten, die schneller genießbare Nahrung identifizieren können. Auch die Pflanzen haben Vorteile – von der bevorzugten Verbreitung ihrer Samen durch Lemuren bis zur längeren Reifezeit der nachwachsenden Früchte. Insgesamt scheint die Duftveränderung nicht nur ein Nebenprodukt des Reifeprozessese zu sein, denn sie lässt sich keineswegs in diesem Umfang bei Pflanzen mit weniger geruchsorientierten Vögeln als Samenverbreitern nachweisen.
Diese chemische Kommunikation zwischen Pflanzen und Lemuren als „Samentaxis“ ist offenbar so erfolgreich, dass sie sich im Laufe der Zeit auf der Insel verbreitet hat. Die neuen Forschungsergebnisse stützen daher die Annahme, dass Pflanzen ihre Fruchteigenschaften den von ihnen bevorzugten Samenausbreitern anpassen.
Die Ko-Evolution der madegassischen Lemuren und Pflanzen mag aufgrund der isolierten Lage der Insel ein Extrembeispiel sein. Ähnliche Anpassungsprozesse könnten sich aber durchaus in anderen Systemen abgespielt und die sensorische Entwicklung von Primaten und schließlich Menschen geprägt haben.
Neben den Ulmer Biologen beteiligten sich Wissenschaftler der madegassischen Universität Antannarivo, der University of Connecticut und der TU Braunschweig an der Studie. Das Projekt in Madagaskar wird durch Mittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.