Eberhard Karls |
07.10.2016 11:08
Haben wir eigentlich gar keine Wahl?
Tübinger Neurowissenschaftler
finden Hinweise, dass der Motor-kortex unsere Entscheidungsfindung beeinflusst ‒ und bei “Entweder-Oder”-Entscheidungen für abwechselnde Reaktionen sorgt
Jeder Handlung geht eine Entscheidung voraus, so glauben wir – aber was geschieht dabei im Gehirn? Es scheint einleuchtend, dass wir stets zuerst zwischen verschiedenen Optionen auswählen: Zum Beispiel können wir uns angesichts einer auf Gelb schaltenden Ampel zwischen Bremsen und Gasgeben entscheiden. Anschließend wird die passende motorische Reaktion ausgewählt und durchgeführt, hier etwa „Fuß auf linkes Pedal“ oder „Fuß auf rechtes Pedal“. Bisher wird angenommen, dass verschiedene Hirnregionen für diese Schritte verantwortlich sind, wobei der Motorkortex die motorischen Reaktionen auswählt, ohne selbst Entscheidungen zu beeinflussen.
Die Tübinger Neurowissenschaftler Anna-Antonia Pape und Forschungsgruppenleiter Markus Siegel (Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften – CIN / MEG Zentrum) haben nun Hinweise gefunden, die dieser Unterteilung in „entscheidende“ und „reagierende“ Hirnregionen widersprechen. Demnach finden sich in motorischen Arealen unseres Gehirns Echos vorhergehender Entscheidungen, die Einfluss auf unsere nächsten Entscheidungen haben. Die Ergebnisse wurden am 7. Oktober 2016 im renommierten Fachjournal Nature Communications veröffentlicht; http://dx.doi.org/ncomms13098
Pape und Siegel stellten 20 Versuchspersonen eine einfache Aufgabe: Sie sollten entscheiden, ob ein Feld aus Punkten sich auf dem Bildschirm gemeinsam in die gleiche Richtung bewegte oder nicht. Dabei wurde ihre Gehirnaktivität mittels Magnetenzephalographie (MEG) aufgezeichnet. Die Versuchspersonen konnten entweder mit „ja“ oder „nein“ antworten, indem sie mit der rechten oder der linken Hand einen Knopf drückten. In jedem Durchgang änderte sich aber zufällig die Verknüpfung zwischen der Entscheidung (ja/nein) und der motorischen Reaktion (linker/rechter Knopf); die aktuelle Einstellung wurde den Probanden durch einen kurzen Hinweis mitgeteilt, so dass ihr Gehirn nicht schon während der Entscheidungsphase die passende Knopfdrückbewegung planen konnte. Obwohl die Versuchspersonen meist den richtigen Knopf drückten, zeigten sie verblüffenderweise insgesamt eine Tendenz zur Alternation der motorischen Reaktion: Immer wie-der drückten sie einfach den Knopf, den sie im letzten Durchgang nicht gewählt hatten. Diese Vorliebe fürs Abwechseln war ausgeprägt genug, dass die Testpersonen insgesamt schlechter abschnitten, als es sonst der Fall gewesen wäre.
Beim Auswerten der MEG-Daten fanden Pape und Siegel eine neurale Entsprechung dieser Ten-denz, und zwar im Motorkortex selbst. Nach bisherigem Verständnis von Handlungsentscheidungen hängen die Hirnareale, in denen die motorische Reaktion geplant wird, davon ab, dass vorher eine Entscheidung fällt. Pape und Siegel können nun zeigen, dass eine bevorstehende Handlungsent-scheidung umgekehrt auch vom Zustand der motorischen Areale schon vor der Entscheidungsfin-dung beeinflusst werden kann. Der Zustand der motorischen Areale wird dabei stark von den neu-ronalen Überresten der vorherigen motorischen Reaktion geprägt, und deren Stärke sagt die Ten-denz vorher, die Handlungsoptionen abzuwechseln. Zusammengenommen spricht das dafür, dass der Motorkortex Einfluss auf Handlungsentscheidungen hat.
Diese Ergebnisse ziehen die bisherige Annahme in Zweifel, Handlungsentscheidungen würden ausschließlich im präfrontalen und fronto-parietalen Kortex getroffen, das sind Hirnareale, die für „höhere“ Hirnfunktionen verantwortlich und für Gedächtnis und problemlösendes Denken essenziell sind. Der Motorkortex galt lediglich als ausführendes Organ. Papes und Siegels Ergebnisse legen dagegen nahe, dass auch der Motorkortex bei entscheidungsbasiertem Verhalten eine wichtige Rolle spielt.
Heißt das nun, dass wir beim Reagieren auf unsere Umwelt eigentlich gar keine Wahl haben? „Entscheiden“ wir ganz zufällig, auf der Basis beliebiger Zustände in unserem Motorkortex? Anna-Antonia Pape, die die Daten für die Studie aufgezeichnet und analysiert hat, glaubt das nicht: „Si-cher, der Effekt ist da, aber ich würde deswegen nicht den freien Willen in Frage stellen! Höhere Hirnareale sind immer noch extrem wichtig bei Entscheidungen. Aber immerhin wissen wir jetzt, dass die Motorareale zumindest gelegentlich einen Unterschied machen können.“