VON Gunnar Bartsch |
03.05.2016 10:36
Wie wir andere verstehen
Menschen, die sich gut in andere hineinfühlen können, müssen diese nicht unbedingt auch gut verstehen. Im Gegenteil: Überbordendes Einfühlen kann das Verstehen sogar beeinträchtigen. Das zeigt eine neue Studie von Psychologen aus Würzburg und Leipzig.
Wem der beste Freund erzählt, dass seine Partnerin ihm gerade vorgeschlagen habe, sie sollten „gute Freunde“ bleiben, muss in diesem Moment zwei Leistungen vollbringen: Zum einen sollte er verstehen, dass sich hinter diesem gut klingenden Vorschlag eine Trennungsankündigung verbirgt. Zum anderen sollte er Mitgefühl mit seinem Freund zeigen und ihm Trost zusprechen.
Ob Empathie – umgangssprachlich Einfühlung genannt – und kognitive Perspektivenübernahme – also das Vermögen zu verstehen, was andere Menschen wissen, planen, wollen – miteinander zusammenhängen, haben jetzt die Psychologen Anne Böckler, Philipp Kanske, Mathis Trautwein, Franca Parianen-Lesemann und Tania Singer untersucht.
Die Publikation
Anne Böckler ist seit Oktober 2015 Juniorprofessorin am Institut für Psychologie der
Universität Würzburg.
Zuvor war sie Postdoktorandin in der Abteilung für Soziale Neurowissenschaften am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig, wo sie gemeinsam mit ihren Kollegen die Studie durchgeführt hat. Die Ergebnisse ihrer Arbeit stellen die Wissenschaftler in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Social Cognitive and Affective Neuroscience vor.
„Eine erfolgreiche soziale Interaktion basiert auf unserer Fähigkeit, an den Gefühlen anderer teilzuhaben und deren Gedanken und Absichten zu verstehen“, erklärt Anne Böckler. Unklar sei bislang allerdings gewesen, ob und wie diese beiden Fähigkeiten miteinander zusammenhängen – ob also beispielsweise Menschen, die sich sehr gut in ihr Gegenüber einfühlen können, ebenfalls in der Lage sind, dessen Gedanken und Absichten gut zu verstehen. Auch die Frage, ob die für diese Leistungen zuständigen neuronalen Netze sich gegenseitig beeinflussen, sei offen gewesen, so die Juniorprofessorin.
Die Ergebnisse
Antworten kann die Studie geben, die Anne Böckler und Philipp Kanske mit ihren Kollegen zusammen am Max-Planck-Institut in Leipzig im Rahmen einer groß angelegten Studie unter der Leitung von Tania Singer mit rund 200 Teilnehmern durchgeführt haben. Darin konnten die Wissenschaftler nachweisen, dass Menschen, die zu Mitgefühl neigen, nicht notwendigerweise diejenigen sind, die andere Menschen kognitiv gut verstehen. Soziale Kompetenz scheint also auf verschiedenen und eher unabhängigen Fertigkeiten zu beruhen.
Auch was die Zusammenarbeit der verschiedenen Netzwerke im Gehirn betrifft, liefert die Studie neue Ergebnisse: Demnach interagieren die Netzwerke, die für Empathie und kognitive Perspektivenübernahme eine Rolle spielen, miteinander. In sehr emotionalen Situationen – beispielsweise wenn jemand vom Tod eines Freundes erzählt – kann die Aktivierung in der Insula, eines Teils des Empathie-relevanten Netzwerkes, bei manchen Menschen einen hemmenden Einfluss auf Gehirnareale haben, die für die Perspektivenübernahme relevant sind. Und das wiederum führt dazu, dass überbordendes Mitgefühl soziales Verstehen sogar beeinträchtigen kann.
Die Studie
Die Teilnehmer dieser Studie sahen eine Reihe von Videosequenzen an, in denen der Erzähler mal mehr oder weniger emotional war. Anschließend sollten sie angeben, wie sie sich selbst fühlten, wie sehr sie mit der Person in dem Film mitgefühlt hatten und Fragen zu den Filmen beantworten – beispielsweise was die Personen gedacht, gewusst oder gemeint haben könnten. Nachdem die Psychologen auf diesem Weg Menschen mit einem hohen Maß an Empathie identifiziert hatten, untersuchten sie deren Anteil unter den Versuchsteilnehmern, die bei dem Test zur kognitive Perspektivübernahme gut beziehungsweise schlecht abgeschnitten hatten – und umgekehrt.
Mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie beobachteten die Wissenschaftler während ihrer Tests, welche Bereiche des Gehirns zu welchem Zeitpunkt aktiv waren.
Die Bedeutung
Von Bedeutung sind die Ergebnisse dieser Studie nach Meinung der Autoren sowohl für die Neurowissenschaft als auch für die Anwendung in der Klinik. So legen sie beispielsweise nahe, dass Trainings, die das Ziel haben, soziale Kompetenz zu verbessern, die Bereitschaft sich in andere einzufühlen und die Fähigkeit, andere kognitiv zu verstehen und deren Perspektive einzunehmen, gezielt und getrennt voneinander fördern sollten. Genau an diesem Thema, der spezifischen Trainierbarkeit verschiedener sozialer Fertigkeiten, arbeitet die Gruppe in der Abteilung für soziale Neurowissenschaften in Leipzig im Rahmen des ReSource Projektes momentan weiter.