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VON Axel Burchardt  |  12.01.2016 13:41

Karriereleiter wird zur Kletterwand

Sozialwissenschaftler der Universität Jena beleuchten in einem neuen Buch die veränderten politischen Laufbahnen in Europa

Jena (sh) Bundeskanzlerin Angela Merkel ist Physikerin, der Präsident des Europäischen Parlaments Martin Schulz hat als Buchhändler gearbeitet, Frankreichs Staatspräsident François Hollande Jura studiert. Offensichtlich führen viele Wege in die Politik. Hatte man sich in der Vergangenheit aber dazu entschieden, galt in föderal organisierten Staaten Europas lange Zeit eine klar strukturierte Karriereleiter mit der nationalen Politik auf der höchsten Stufe. Im Zuge des europäischen Einigungsprozesses haben sich jedoch neben dem Hauptweg verschiedene weitere Karrierepfade herausgebildet. Aus der Karriereleiter ist eine Kletterwand mit unterschiedlichen Auf- und Abstiegsmöglichkeiten geworden. Zu dieser Erkenntnis jedenfalls kommen Sozialwissenschaftler der Friedrich-Schiller-Universität Jena in ihrem neuen Buch „Political Careers in Europe. Career Patterns in Multi-Level Systems“. Im Rahmen eines mehrjährigen Forschungsprojektes sind sie gemeinsam mit europäischen Kollegen der Frage nachgegangen, wie heute politische Karrieren aussehen und welche Dynamik sie aufweisen.

„Sogenannnte Ebenenwechsler – also Politikerinnen und Politiker, die während ihrer Laufbahn Ämter auf mehr als nur einer Ebene, zum Beispiel auf der Landesebene, innehaben – sind zwar nach wie vor in der Minderheit“, sagt Dr. Michael Edinger, einer der Herausgeber des Buches. „Doch für diese Berufspolitiker haben sich die Möglichkeiten für ihren Werdegang vervielfältigt.“ In den neun Kapiteln des Buches untersuchen die Wissenschaftler politische Karrieren in Staaten der Europäischen Union und den USA. Während die Karriereverläufe in Amerika weiterhin festen Mustern folgen, z. B. von der Bundesstaatenebene in den Kongress, hat sich in Europa einiges verändert. So bieten etwa das Europäische Parlament oder, in Großbritannien, die Regionalparlamente von Schottland und Wales zusätzliche Karriereoptionen für ambitionierte Politiker. In Belgien schuf die Föderalisierung neue Muster politischer Laufbahnen. Im stärker zentralisierten Italien war es der politische Umbruch nach Korruptionsskandalen, der in den 1990er Jahren zu mehr Optionen für Berufspolitiker führte.

„Offenkundig unterliegen politische Karrieren einem Wandel“, fasst Mitherausgeber Dr. Stefan Jahr zusammen, der an der Universität Jena promoviert wurde und nun an der Universität von Manchester tätig ist. „Den klassischen Aufstieg von einer niedrigeren zu einer höheren politischen Ebene gibt es weiterhin. Daneben aber haben sich neue Karrieremuster etabliert.“ In Deutschland bleibe etwa der Bundestag ein wichtiges Karriereziel, doch könne es durchaus vorkommen, dass ein Landtagsabgeordneter einen Sitz im Europaparlament übernimmt. Und auch der Wechsel vom Bundestag in ein Landesparlament würde nicht zwangsläufig als Rückschritt in der Karriere betrachtet. „Die Karrierewege, die Politiker einschlagen, dienen oftmals auch der Absicherung gegen die Risiken der Berufspolitik“, erläutert Michael Edinger.

Das neue Buch geht aus einem Netzwerk hervor, das am vormaligen Jenaer Sonderforschungsbereich „Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch“ entstanden ist. Für die Studie werteten die beteiligten Forscher umfangreiche Datensätze zu Karrieren von Abgeordneten und Ministern aus.