VON KATJA KLEIN |
17.07.2015 10:10
Wenn für Obdachlose „Home sweet home“ nicht mehr gilt
Eine Stadtführung, geplant von FHWS-Studierenden, führte Schüler ein in Orte und Lebensweisen des Obdachlosen Berti
Der gebürtige Würzburger hat sein Abitur am Friedrich-Koenig-Gymnasium gemacht, an der Bundeswehrhochschule in München sechs Semester Pädagogik studiert, ist ehemaliger Bundeswehroffizier und Vater zweier studierter Kinder. Er spricht während der Stadtführung, die Studierende der Fakultät Angewandte Sozialwissenschaften an der
Hochschule Würzburg-Schweinfurt für Schüler der Abschlussklassen der David-Schuster-Realschule konzipiert haben, über Faust I, Hesse, Shakespeare und Brecht, schwärmt für Literatur und die stillen Lektürestunden im Lusamgärtchen.
„Auf der Straße gibt`s kein `Sie`“, sagt Berti und fordert die Schüler und Studierenden auf, ihn während der Stadtführung zu duzen. Berti, Endvierziger, ist seit zehn Jahren obdachlos, seit vierzehn Jahren arbeitslos. Er zeigt den jungen Menschen seine Orte in Würzburg auf, an denen er sich aufhält, schildert, welche grundlegenden Bedürfnisse Obdachlose für sich regeln müssten: Wo gibt es Geld, wo kann man übernachten, wo sich tagsüber aufhalten, wo gibt es etwas zu essen, zu rauchen, wo gibt es Beratung und medizinische Versorgung.
Statt einer festen Wohnung, einem Arbeitsplatz, Stammlokal und Verein hat Berti feste Anlaufstellen, zwischen denen er sich bewegt – je nach seinen Bedürfnissen und den Öffnungszeiten. Hierzu zählt u.a. die Bahnhofsmission, erste Anlaufstelle für alle, die neu in die Stadt kommen und Informationen, einen heißen Tee und etwas zu essen benötigen. Das Christopherushaus in der Wallgasse, zentrale Beratungsstelle für Wohnungslose und Strafentlassene, bietet 23 KZÜs für Männer an (Kurzzeitübernachtungen - Berti: „Auch bei uns gibt’s überall Abkürzungen!“), hier erhalten Obdachlose ihre Tagessätze vom Jobcenter, sie können essen, übernachten.
Die nächste Anlaufstelle, zu der Berti die jungen Menschen mitnimmt, ist die Wärmestube in der Rüdigerstraße: In dem „Café mit sozialpädagogischem Background“ (so ein Mitarbeiter) können Obdachlose an sechs Tagen in der Woche etwas essen und trinken, Gespräche führen, sie erhalten Erstberatungen, können sich duschen, ihre Wäsche waschen, ihnen wird geholfen bei Beziehungsproblemen und Familienkonflikten, sie können Telefon und Internet nutzen, eine Rechtsberatung erfolgt über das Projekt „Anwälte hören zu“, Zeitungen, Bücher und Gesellschafts-, sowie Kartenspiele liegen aus zur Nutzung. Berti schätzt es, dass niemand nach dem Ausweis oder der Bedürftigkeit gefragt wird, es gehe ausschließlich darum, was die Obdachlosen benötigten. Die pflegerische und medizinische Versorgung gewährleisten wechselnd die Bahnhofsmission, die Sedanstraße 11 sowie die Wärmestube mit Sprechstunden bei Ärzten und Zahnärzten sowie einer Fußpflege, darüber hinaus ist Bruder Tobias von der Würzburger Straßenambulanz Ansprechpartner für „innere und äußere Wunden“, so Berti.
Auf dem Weg in den Rosenbachpark, Bertis „Wohnzimmer“, in dem Obdachlose vor dem Gang in die nahe gelegene Wärmestube mit Alkohol „vorglühen“, da dort Alkoholverbot herrsche, antwortet er auf die Frage, wie er auf der Straße gelandet sei: Obdachlosigkeit sei keine Frage von Bildung, es könne jeden in jeder Schicht treffen. Bei ihm sei es so gewesen, dass er sich von seiner Frau getrennt habe, Alkohol sei mit im Spiel gewesen, er habe Schulden zurückzahlen müssen, konnte die Miete nicht mehr aufbringen und sei wohnungslos geworden. Gefragt, ob er sich vorstellen könne, wieder peu-à-peu ins Erwerbsleben zurückzukehren und eine Wohnung zu beziehen, meinte Berti, er komme mit dem „normalen Leben“ nicht mehr klar, er wolle keine weitere Verantwortung mehr übernehmen außer für sich selbst. Wenn, dann ginge das nur in sehr kleinen Schritten. Er habe schon mal in einem Bücher-Antiquariat gearbeitet, da er Bücher liebe und sich da auskenne, aber das sei vom Arbeitsklima her nicht lange gut gegangen, er sei rausgeschmissen worden. Er bessere seine finanzielle Situation auf mit dem Pfandflaschensammeln, Tabak finde er rund um die Hochschulen. Er wünsche sich eine Partnerschaft, aber das sei schwer - wer wolle schon zu zweit „auf Platte gehen“ (draußen schlafen). In jedem Kloster erhalte man immer etwas zu essen, hungern müsse in Würzburg keiner.
Er habe schon öfters als Interviewpartner zur Verfügung gestanden u.a. für die Main Post und den Bayerischen Rundfunk, die Kulturtafel, und könne sich eine Unterrichtseinheit vorstellen mit einer ersten Stunde, in der die Schüler Phil Collins` Lied „Another day in Paradise“ übersetzen könnten, das von Obdachlosigkeit handele (Auszug aus dem Lied: „Sie ruft dem Mann auf der Straße hinterher: `Sir, können sie mir helfen? Es ist kalt, und ich habe keinen Platz zum Übernachten. Können sie mir einen sagen?` Er geht weiter, schaut nicht zurück.“), die zweite Stunde könne die Obdachlosigkeit an sich thematisieren.
Berti gibt Auskunft auf die Frage, ob er Gewalt gegen Obdachlose erlebt habe: Es habe einen dramatischen Fall gegeben, in dem ein Wohnungsloser in seinem Schlafsack mit Benzin übergossen und angezündet worden sei. Angepöbelt werde er täglich, meist von Menschen, die kaum höher stünden als er, „Otto Normalverbraucher“ seien eher interessiert und zu Gesprächen bereit. Die Studierenden unter der Leitung von Professor Dr. Ulrich Gartzke erstellen diese Führung im Rahmen eines Praxisprojektes im Bereich „Management in sozialen Diensten und Einrichtungen", die Schüler der Lehrerin Eva Steinmetz wählten den Stadtgang im Rahmen des Unterrichtsthemas „Obdachlosigkeit“.