VON JULIA WANDT |
11.12.2014 14:39
Wie sichtbar ist unsere Demokratie?
Parlamentsstudie von Dr. Ulrich Sieberer und Dr. Dominik Hierlemann hinterfragt Debatten und Fragestunden im Deutschen Bundestag und liefert Vorschläge für mehr Demokratie
„Die geringe öffentliche Wahrnehmung politischer Debatten des Bundestages und dessen zentrale Rolle im politischen System klaffen auseinander. Wer den Bundestag stärken möchte, muss neue Debatten- und Frageformate finden.“ Dies ist die zentrale These von Privatdozent Dr. Ulrich Sieberer, Politikwissenschaftler und Fellow am Zukunftskolleg der
Universität Konstanz, der sich in seinem aktuellen Forschungsprojekt dem „Institutional Design in European Parliaments“ widmet, und Dr. Dominik Hierlemann, Politikwissenschaftler und Senior Project Manager im Programm „Zukunft der Demokratie“ der Bertelsmann Stiftung.
Im Auftrag der Bertelsmann Stiftung haben die beiden Wissenschaftler eine Studie durchgeführt, die die Nutzung verschiedener Debatten- und Frageformate durch Bundestagsabgeordnete, die Wahrnehmung des Deutschen Bundestages bei den Bürgerinnen und Bürgern sowie die Berichterstattung über Parlamentsdebatten und Fragestunden in deutschen Medien untersucht.
Es zeigte sich, dass Abgeordnete – insbesondere der Opposition – zwar verschiedene Debatten- und Frageformate intensiv nutzen, es allerdings an einer für Bürger und Medien abwechslungsreichen Auseinandersetzung fehlt. Dies hat zur Folge, dass die Medien weniger darüber berichten, die Bürger Bundestagsdebatten immer weniger wahrnehmen und nur wenige die Tätigkeit ihrer Abgeordneten verfolgen. Als „Bühne der Nation“ kann der Bundestag demnach kaum bezeichnet werden. Gleichzeitig nehmen die Erwartungen der Bürger an Parlamentarier zu: Die große Mehrheit der Bundesbürger wünscht sich aktive und vor allem sichtbare Volksvertreter.
Dass der Deutsche Bundestag ein Sichtbarkeitsproblem hat, ist ihm wohl bewusst. Zumindest legen die aktuelle Kritik des Bundestagspräsidenten an der derzeitigen Befragungspraxis sowie die von der Großen Koalition im November 2014 beschlossenen Änderungen dieser Praxis, dies nahe. Wenn die Änderungen im Januar 2015 in Kraft treten, dürfte sich laut Sieberer und Hierlemann am geringen öffentlichen und medialen Interesse für dieses Format wenig ändern, weil lediglich ein Minimalkonsens erzielt wurde.
Sieberer und Hierlemann entwickelten deshalb ein Alternativmodell und suchten den Vergleich zum britischen Modell. Im britischen Unterhaus herrscht nicht nur eine deutlich lebhaftere parlamentarische Debattenkultur, sondern es gibt auch eine intensivere Medienpräsenz und folglich mehr Sichtbarkeit für die Bürger. „Die Fragestunde im britischen Unterhaus, vor allem die wöchentliche Befragung des Premierministers („Prime Minister’s Questions“), ist sicherlich das weltweit bekannteste Modell parlamentarischer Fragerechte“, erklärt Ulrich Sieberer. „Befürworter einer lebhafteren Fragestunde im Bundestag, wie etwa SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann, halten die Prime Minister’s Question Time für ein Highlight der parlamentarischen Demokratie. Gegner einer derartigen Reform wie Unionsfraktionsgeschäftsführer Michael Grosse-Brömer warnen hingegen vor einer ‚politischen Talkshow unterm Bundesadler‘.“
Sieberer und Hierlemann kommen zu dem Schluss, dass sich das britische Modell nur begrenzt auf Deutschland übertragen lasse. Es passe nicht in den deutschen Kontext von Koalitionsregierungen und einer konsensorientierten Parlamentskultur.
Für Deutschland schlagen die Autoren eine grundlegende Reform vor, durch die sowohl die Beteiligung der Regierungsmitglieder als auch der Bürger gestärkt werde. Kernelemente ihres Vorschlags sind: 1. eine regelmäßige Befragung der Kanzlerin, des Vizekanzlers und verschiedener Gruppen von Fachministern; 2. verschiedene Fragetypen, die auch Bürger einbeziehen; 3. strikte Zeitbegrenzungen, die eine lebhafte Auseinandersetzung ermöglichen; sowie 4. die thematische Offenheit des Frageinhalts. „Mit dem von uns vorgeschlagenen Modell der Regierungsbefragung würde die Arbeit des Bundestages als Zentrum der deutschen Demokratie sichtbarer und partizipativer“, ist Ulrich Sieberer überzeugt.